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Archiv-Artikel

Die FDP wird schmerzlich vermisst

PHANTOMSCHMERZ Arbeitgeber und Wirtschaftsflügel der Union fürchten den Koalitionsvertrag

„Wir befinden uns in einer Abwehrschlacht“

CHRISTIAN VON STETTEN, CDU, CHEF DES PARLAMENTSKREISES MITTELSTAND

BERLIN taz | Manche SPD-Verhandler wundern sich noch immer. Während ihre Partei mit einem ordentlichem Zehn-Punkte-Programm in die Koalitionsverhandlungen einstieg, bleibt vage, was die Union eigentlich an eigenen, positiv formulierten Zielen verfolgt. „Die wollen nur verhindern“, so die Einschätzung eines Genossen.

Der Wirtschaftsflügel der Union hat zwar kürzlich eine Abmilderung der kalten Progression (Kosten: etwa 4 Milliarden Euro pro Jahr) und bessere Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen gefordert. Doch es fehlt jede Gegenfinanzierung. Denn ein Verzicht auf Steuererhöhungen und Schuldenabbau sind für den Wirtschaftsflügel sakrosankt.

Beim Wirtschaftsflügel ist der Verdruss groß. Kurt Lauk, Chef des CDU-Wirtschaftsrats, wetterte, dass da „der linke Flügel der CDU mit der SPD verhandelt“ – und Unheilvolles wie Rentenerhöhung, Mindestlohn, Frauenquote durchwinke. Lauks Schlussfolgerung: Vielleicht seien „Neuwahlen besser als schlechte Koalitionsverhandlungen“.

Ähnlich ernüchtert ist auch Hubertus Pellengahr, Geschäftsführer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), einer von der Metallindustrie bezahlten Lobbyorganisation. Die INSM soll gut Wetter machen für Steuersenkungen und flexible Arbeitsmärkte. Mit Mindestlohn und Regulierung bei Zeit- und Leiharbeit drohe „eine Strangulierung des Arbeitsmarktes“.

Arg sieht es aus Unternehmersicht auch bei der Rente aus: „Die Rentenpläne von SPD und Union werden mehr kosten, als die Rente mit 67 gebracht hat“, so Pellengahr zur taz. Die letzte Hoffnung der Arbeitgeberlobby ist demnach wohl, dass der Merkel-Gabriel-Regierung das Geld ausgeht. Die von der Union favorisierte Mütterrente, die zwischen 6 und 12 Milliarden Euro im Jahr kosten würde, werde wohl „am Finanzierungsvorbehalt scheitern“, so Pellengahr.

Trotzdem rechnet die wirtschaftsliberale Lobbyorganisation mit dem Schlimmsten. „Wenn der Koalitionsvertrag so wird, wie er sich abzeichnet, dann wird die Agenda 2010 zurückgedreht“, sagt Pellengahr. Denn bei Verhandlungen würden „starke marktwirtschaftliche Stimmen fehlen“. Will sagen: Man sehnt sich nach der FDP.

Auch wenn man in Rechnung stellt, dass bei Unternehmerorganisationen Rhetorik zum Geschäft gehört: Der routinierte Durchgriff auf Regierungsentscheidungen ist schwieriger geworden. Der lahmende Wirtschaftsflügel der Union tut sich ohne die gewohnte Arbeitsteilung mit der FDP schwer.

Christian von Stetten ist Chef des Parlamentskreises Mittelstand (PKM) der CDU/CSU-Fraktion und an dem Koalitionsdeal beteiligt. Er klingt entsprechend realpolitischer: Von Neuwahlen will er nichts wissen. „Wir befinden uns in einer Abwehrschlacht“, so von Stetten.

Von Stetten ist gerade dabei, die roten Linien zu markieren, die der Wirtschaftsflügel Kanzlerin Angela Merkel für die Entscheidungsrunde mit Sigmar Gabriel geben will: „Ein Mindestlohn überall von 8,50 Euro ohne Ausnahmen bei Regionen oder Gruppen wie Jugendlichen oder ohne zeitliche Staffelung, den wird es mit uns nicht geben.“ Klingt ganz schön entschlossen. Aber mit dem doppelten „oder“ eben auch ziemlich flexibel. STEFAN REINECKE