: Ab in die Mitte
Die DGB-Führung will aus ihrer SPD-Nähe kritische Distanz werden lassen. Die Annäherung an die Union nennt Michael Sommer „neue Gesprächskultur“
AUS BERLIN THILO KNOTT
Im Fußball nennt man das Nachtreten. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte ihre Rede beim DGB-Bundeskongress in Berlin beendet, da schritt DGB-Chef Michael Sommer ans Podest: Er bedankte sich bei der „lieben Frau Merkel“ für die „offenen Worte“ und betonte, er wolle „die Rede einer Kanzlerin“ nicht im Nachhinein „zensieren“. Aber mit „einigen Punkten“ sei er „überhaupt nicht zufrieden“. Dann wetterte er gegen die Weigerung der CDU, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Und forderte Merkel auf, gegen die Ausbildungsmisere und den Verlust von tausenden sozialversicherter Arbeitsplätze zu kämpfen. „Tun Sie etwas dagegen!“, sagte Sommer. Aber „keine Angst“, rief der DGB-Chef der Kanzlerin am Mittwoch noch zu, er werde die Rede von Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) „auch entsprechend kommentieren“.
Und, hat er? Sommer schritt nach der Rede Münteferings ans Podest. Er bedankte sich beim „lieben Franz“ für die „offenen Worte“ und betonte, er wolle „die Rede eines Vizekanzlers“ nicht im Nachhinein „zensieren“. Aber mit „einigen Punkten“ sei er „überhaupt nicht zufrieden“. Dann kamen Mindestlohn, Ausbildungsmisere, Arbeitslosigkeit. Fehlte nur noch das: „Tu etwas dagegen!“
„Äquidistanz“ nennen das die Gewerkschafter. Gleicher Abstand zu „allen demokratischen Parteien“ – mit Ausnahme der FDP, die zum Kongress zunächst eingeladen, dann aber wieder ausgeladen wurde. Als Einheitsgewerkschaft sei man „parteipolitisch unabhängig und weltanschaulich neutral“, hatte Sommer gestern noch einmal in seiner Grundsatzrede erklärt. „Äquidistanz“, ein gewerkschaftlicher Grundsatz, dem die bisherige Praxis aber nicht gerecht wird.
Schon auffällig, wie sich Sommer seit Beginn der großen Koalition aus der Abhängigkeit von einer desorientierten SPD lösen will. Ständig spricht er von „guten und stabilen Arbeitskontakten“ zur Regierung Merkels. Von einer „neuen Gesprächskultur“ zu den Großkoalitionären. Und es hört sich immer so an, als wollte er der SPD auch jetzt noch eins mitgeben – für Gerhard Schröder, seine Agenda 2010 und sein ignorantes Übergehen der Gewerkschaften.
Der DGB macht ja jetzt selbst ein bisschen auf große Koalition. Abzulesen ist das am neuen, aber in diesen Tagen äußerst umstrittenen Personaltableau des Vorstands: An die Seite des Sozialdemokraten Sommer haben die knapp 400 Delegierten eine Christdemokratin ins Vizeamt gewählt – Ingrid Sehrbrock, von der CDA, der christlichen Gewerkschaftsorganisation, was letztmals mit Maria Weber in den 70er-Jahren der Fall war. Sehrbrock, die stellvertretende Vorsitzende der CDU-Sozialausschüsse, hatte sich in einer Kampfabstimmung gegen die bisherige DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer knapp durchgesetzt. „Das ist ein klarer Ruck in die Mitte“, sagt der Gewerkschaftsexperte Josef Esser. Und Ingrid Sehrbrock, der ein guter Draht zu Kanzlerin Merkel nachgesagt wird, sagte wie auf Bestellung: Ihre Partei, die CDU, habe sich „von ihrem neoliberalen Kurs verabschiedet“ und bewege sich „wieder zur Mitte“.
Die Annäherungsversuche an die Union sind für den DGB allerdings ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft. Bisher hat die große Koalition die Gewerkschaften doch einigermaßen in Ruhe gelassen. Unter einer schwarz-gelben Regierung hätten sie mit verschärften Abwehrkämpfen um ihre Herzensangelegenheiten Mitbestimmung und Tarifautonomie rechnen müssen. Beides wird weder von Merkel noch von Müntefering in Frage gestellt, was beide auf dem DGB-Kongress auch betonten.
Doch die konflikthaften Themen kommen noch. Da ist der Kündigungsschutz, den die große Koalition für die ersten zwei Jahre eines neuen Arbeitsverhältnisses aufheben will. Da ist die Gesundheitspolitik, in der die Gewerkschafter die Bürgerversicherung favorisieren. Da ist die Rente mit 67, mit der Müntefering zum großen Ärger des DGB vorgeprescht ist. Da ist aber vor allem das Thema Niedriglohnsektor. Die DGB-Delegierten – wiewohl gegen den Willen der Chemiegewerkschaft IG BCE – verabschiedeten die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro für alle Branchen. Und Sommer kündigte „einen erhöhten Druck“ an vor der Entscheidung der Regierung diesen Herbst, damit der Niedriglohnsektor komplett abgeschafft werde.
Ob der „erhöhte Druck“ allerdings etwas nützt? Merkel sagt, sie zeige sich „grundsätzlich offen für die Diskussion über einen Mindestlohn“. Müntefering sagt, die Debatte über Kombilöhne und Mindestlöhne laufe. Merkel sagt, einen einheitlichen, flächendeckenden Mindestlohn halte sie „nicht für richtig“. Und Müntefering sagt: „Macht es euch mit den 7,50 Euro nicht zu leicht.“
Bei den Auftritten von Merkel und Müntefering erhob sich stets eine Gruppe Ver.di-Delegierter. Auf ihren roten T-Shirts stand „Mindestlohn on Tour“. Beim letzten Redner dieses Kongresses blieben sie sitzen. Ihm mussten sie nicht ihre 7,50-Euro-Forderung demonstrieren. Oskar Lafontaine sagte den begeisterten Gewerkschaftern: Deutschland brauche Mindestlöhne gegen das „brutale Lohndumping“. Gegen den Neoliberalismus, der ja nichts anderes sei als „Dumping bei den Löhnen, Dumping bei den sozialen Leistungen und Dumping bei den Steuern“. Kein Wunder, dass Lafontaine Mindestlöhne gut findet: Ver.di und die Linkspartei haben den Mindestlohn ja in enger Kooperation entwickelt.
DGB-Chef Michael Sommer schritt nicht zum Podest. Er sagte nicht „lieber Oskar“. Er betonte nicht, dass er die „Rede des Linkspartei-Fraktionsvorsitzenden“ im Nachhinein nicht „zensieren“ wolle. Er fand „keine Punkte“, mit denen er „überhaupt nicht zufrieden“ hätte sein können. Er blieb sitzen.