: Signal für die Börse
VON ROLF LAUTENSCHLÄGER
Einem Staatsakt gleicht die heutige Eröffnung des neuen Berliner Hauptbahnhofs: In zehn Jahren Bauzeit und nur einen Steinwurf weit vom Kanzleramt entfernt, weiht Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die neue Superstation ein. Bei dem Festrausch in Europas größtem Kreuzungsbahnhof mit dabei sind neben Bahnchef Hartmut Mehdorn, Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) und Günter Verheugen, Vizepräsident der Brüsseler EU-Kommission. Dass Merkel das Startzeichen für Mehdorns Lieblingskind gibt, erhält zusätzlichen Symbolwert. Könnte dies doch das Signal und eine Werbung für die umstrittenen Privatisierungspläne der Bahn AG und deren beabsichtigten Börsengang im Oktober sein.
Segen von oben erhält der Bahnhof aber jetzt schon: Im Anschluss an die Merkel-Rede ist ein ökumenischer Gottesdienst geplant. Danach, quasi als Höhepunkt des Abends, inszeniert Lichtdesigner Jerry Appelt den riesigen Bahnglaspalast mit seiner „spektakulären Illumination“. Bis Samstag steigt für die Öffentlichkeit eine Party auf allen fünf Ebenen des Bahnhofs. Zum Abschluss rockt die Kölner Band BAP.
Bleibt man in den Bereichen der Superlative, ist in der Mitte der Hauptstadt ein Kreuzungsbahnhof „für eine neue Dimension des Schienenverkehrs“ von und nach Berlin entstanden, wie Mehdorn meint. Richtig ist, nicht allein eine gläserne Kathedrale des Verkehrs nach den Plänen des Hamburger Architekten Meinhard von Gerkan wurde errichtet. Der Bund, das Land und die Bahn krempelten vielmehr das gesamte Berliner Schienenverkehrskonzept um, das nun am 28. Mai ans Netz geht – und Auswirkungen auf den Fahrplanwechsel in ganz Deutschland hat.
Obsolet sind ab dem 28. Mai die bestehenden Berliner Fernbahnstationen auf dem S-Bahn-Viadukt von West nach Ost. Statt in einer Reihe von Bahnhöfen, wie Spandau, Zoo oder Ostbahnhof wird zukünftig der ICE-Verkehr zentral am Hauptbahnhof gebündelt. Hinzu kommt die neue Nord-Süd-Trasse, die den Bahnhof unterirdisch kreuzt und nördlich davon halbkreisartig nach Nordost und Nordwest als „Pilzkonzept“ ausschwenkt. Für den Bau dieses Tunnels waren ab 1994 auf 2,4 Kilometer Länge der Tiergarten, der Potsdamer Platz und Teile von Kreuzberg aufgerissen und durchbohrt worden. Die Spree musste umgeleitet werden. Einen zur Erschließung des Bahnhofs zusätzlichen Autotunnel – der bis dato kaum genutzt wird – führten die Planer parallel zur Bahnröhre.
Damit sich Fern- und Nahverkehr nicht blockieren, entwickelte und eröffnet nun die Bahn AG eine Anzahl neuer Bahnhöfe, die neben den bestehenden Stationen Zoo und Friedrichstraße die Regionalverbindungen bedienen: im Süden der Regional- und ICE-Bahnhof Papestraße (zukünftig: „Südkreuz“), im Zentrum der Potsdamer-Platz-Bahnhof und im Norden Gesundbrunnen. Werden die Kosten des Hauptbahnhofs auf rund 700 Millionen Euro geschätzt – Zahlen will Mehdorn erst in einigen Monaten nennen –, so verschlang die Gesamtinvestition eine Megasumme. Insgesamt wurden seit dem Fall der Mauer rund 10 Milliarden Euro in das Berliner Bahnsystem gepulvert.
Das Geld bildet das Hauptangriffsziel der Bahnkritiker. Weil ursprünglich die Hälfte der Summe geplant war und die Bahn nur 1,5 Milliarden Euro Eigenanteil investierte, trage bei der Kostenexplosion der Steuerzahler die größte Last, moniert der grüne EU-Abgeordnete und Verkehrsexperte Michael Cramer. Zugleich seien die Dimensionen des neuen Bahnhofs und des Gesamtkonzepts in Zeiten der Nachwende-Euphorie geplant worden, als Stadtplaner Berlin sechs Millionen Einwohner prognostizierten. Und schließlich ist Cramer besonders sauer auf den Bedeutungsverlust der alten Bahnhöfe. Das Konzept „alles in die Mitte“ erzeuge mehr Verkehr und koste die Fahrgäste mehr Zeit – zumal der Bahnhof unzureichend an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden sei.
Richtig ist, dass etwa Fernreisende aus Charlottenburg, die einst am Zoo in Richtung Köln oder Frankfurt eincheckten, jetzt netto 6 Minuten länger unterwegs sind als vorher. Richtig ist aber auch, dass mit den 1.100 Zügen, die täglich durch den Hauptbahnhof, die Tunnel und über die neuen Gleise rauschen, bessere Verbindungen entstanden: Nach Leipzig dauert die Fahrt nur eine Stunde, nach München spart man 50 Minuten, nach Rostock ist man 11 Minuten schneller. Und nach Osten? Weil der Gleisausbau nach Warschau, Breslau oder Stettin hinkt, fährt man dahin bis über 2012 hinaus vielfach langsamer als vor dem Krieg.