: „Keine Politik ist das!“
WENN LIEBE VERGEHT Der Schriftsteller Ingo Schulze hat auf die SPD gesetzt, denn sie, wer sonst, hätte eine sozialere Politik für Deutschland und Europa machen können. Vergebens, nun fehlen sogar ihm die Argumente für die SPD und er hat Frau M. nichts mehr entgegenzusetzen
■ Bekannt wurde Ingo Schulze als Schriftsteller. Geboren 1962 in Dresden und aufgewachsen in der DDR, erlangte er 2005 mit dem Roman „Neue Leben“ den Zusatz Wende-Schriftsteller. Schulze mischt sich als Essayist in politische Debatten ein und hat mit anderen den Aufruf wider-die-grosse-koalition.de gestartet.
VON INGO SCHULZE
Gestern Mittag klingelte Frau M. an meiner Tür, wir wohnen im selben Haus. Wenn ich nicht da bin, kümmert sie sich um meine Post. Auf meine Begrüßung antwortete sie nicht gleich, sondern sah mich mit leicht gesenktem Kopf an. „Wollen Sie hereinkommen?“, fragte ich.
„Ich ziehe meine Stimme zurück!“, verkündete sie. „Löschen Sie meinen Namen von diesem Aufruf!“*
„Wollen Sie nicht doch hereinkommen?“
„Nein, löschen Sie meinen Namen!“
„Der Kopf sagt Ja, das Herz sagt Nein“
SABINE FRIEDEL, SPD-STADTVORSITZENDE DRESDEN
„Darf ich fragen, warum? Finden Sie die Große Koalition jetzt doch richtig?“
„Ich will mit denen nichts mehr zu tun haben, gar nichts mehr!“
„Aber …“, sagte ich, ohne weiterzuwissen.
„Ich schreibe denen keine Briefe mehr, schon gar keine Liebesbriefe!“, rief sie.
„Aber der Aufruf wider die Große Koalition ist doch kein …“
„Ich finde schon, dass man den Koalitionsvertrag den Mitgliedern so vorlegen kann“
JUSO-CHEF SASCHA VOGT
„Doch!“, beharrte sie. „Vielleicht ein bitterer Liebesbrief, aber immer noch ein Liebesbrief! Da ist noch immer so ein Glauben an diese Partei – nein! Träumen Sie allein weiter. Ich will meine Unterschrift zurück!“
Noch bevor ich etwas erwidern konnte, marschierte Frau M. bei mir ein und forderte mich auf, die Rede von Steinmeier vom 19. November auf dem Arbeitgebertag im Netz zu suchen. „Minute 17“, dekretierte Frau M.
Dr. Frank-Walter Steinmeier sprach: „Wenn Sie sich in gerechter Weise zurückerinnern, dann hat es eigentlich die entscheidenden Steuersenkungen, und zwar in einem Volumen von mehr als 60 Milliarden Euro, unter einer sozialdemokratischen Regierung gegeben. Mit der Senkung des Spitzensteuersatzes, mit der Senkung des Eingangssteuersatzes, mit der Senkung der Unternehmenssteuern. Sie haben bis dahin ihre Kapitalsteuern, ihre Kapitalzinsen nach dem Einkommenssteuergesetz bezahlt, und seit der Zeit nur noch für die Hälfte ungefähr nach dem Abgeltungssteuergesetz, das war damals immerhin sozialdemokratische Steuerpolitik. Und ich finde bis heute, das ist nicht so ganz schlecht.“ (Applaus!)
„Aber das ist doch nicht neu!“, sagte ich und beendete das Video.
„Die Bereitschaft, sich offensiver damit zu beschäftigen, wächst“
MANFRED SCHAUB, SPD HESSEN-NORD
„Ja, aber dass er das jetzt noch gut findet! Nichts gelernt! Diese Anbiederung! Worauf hoffen Sie denn? Haben Sie von denen etwas zum Freihandelsabkommen gehört, das unser Leben verändern wird? Oder zu unserer Enteignung durch die niedrigen Zinsen, die jene treffen, die nicht spekulierten? Etwas vom Krieg gegen den Terror, vom Elend der Griechen, bei denen mehr als ein Drittel keine Krankenversicherung mehr haben, nichts von dieser Umverteilung von unten nach oben, natürlich nicht, nichts gegen die Wachstumsideologie – das ist …“ Frau M. schüttelte den Kopf.
„Was ist das?“, fragte ich.
„Keine Politik ist das!“
„Ein Ja ist gerechtfertigt“
ANDREAS BOVENSCHULTE, SPD BREMEN
„Aber der Mindestlohn und die doppelte Staatsbürgerschaft und all diese neuen Errungenschaften“, fragte ich scheinheilig.
Frau M. sah mich voller Verachtung an. „Das und viel mehr hätten sie doch in anderen Konstellationen mit links geregelt. Außerdem hat die Inflation den Mindestlohn schon wieder aufgefressen, wenn er dann kommt. Und was glauben Sie, wie die jetzt durchregieren werden, keine Untersuchungsausschüsse, die sie nicht selbst beschließen, kein Widerspruch im Bundesrat, und für die Zukunft alle Bündnisse jenseits von Merkel vermasselt!“
Frau M. kam immer mehr in Fahrt. „Die wissen doch selbst nicht mehr, was sie wollen. Sie haben kein politisches Selbstbewusstsein mehr, genauso marktkonform wie Merkel, immer nur Wachstum, Wachstum. Unsere Gesellschaft hat kein Wachstumsproblem, sondern ein Gerechtigkeitsproblem. Und diese Angst, als vaterlandslose Gesellen zu gelten! 24 Jahre nach dem Mauerfall getrauen sie sich nicht, auch nur mit den Linken zu reden. Lassen sich von denen, die sich ihre Blockflöten samt Liegenschaften und Vermögen einverleibt haben, am Nasenring vorführen. Und für solche Waschlappen noch einen Finger rühren?“
„Viele sehen die Erfolge der SPD, der Zeiger schlägt zur Zustimmung aus“
NATASCHA KOHNEN, SPD-GENERALSEKRETÄRIN BAYERN
„Ich streiche Sie nicht von der Liste!“, unterbrach ich sie schließlich. Frau M. starrte mich an. Ich hatte ihr noch nie widersprochen.
„Wieso?!“, knurrte sie.
„Weil Sie recht haben! Deshalb.“ Etwas später verabschiedeten wir uns dann voneinander.