: Schweinsteiger und vier Kims in Kobe
HERKUNFT Die koreanische Minderheit in Japan ist so gespalten wie ihre ehemalige Heimat – und nicht immer erkennt man die Gründe. Unsere Autorin ist gerade auf Besuch da
VON ANNA KIM
Die weißen und schwarzen Kleinbusse fallen vor allem auf, weil die japanische Fahne an mindestens einer Seitentür befestigt ist; sie flattert im Wind, während uns einer der Wagen überholt und der Fahrer in sein Megafon spricht, im Hintergrund ist blechern die japanische Nationalhymne zu hören. Hate speech, klärt mich meine Reisebegleiterin Yuri auf. Vielleicht sei er auf dem Weg zu einer koreanischen Schule in Kioto, sagt sie, um vor dem Gebäude zu parken und allen, die Ohren haben, zu erläutern, weshalb die koreanische Minderheit in Japan schleunigst das Land verlassen sollte.
Uyoku ist der Überbegriff für die extremen Rechten in Japan, ich habe von den gaisenshas, den Lautsprecherwagen, gelesen, aber ich hätte nicht gedacht, dass ich so bald einem begegnen würde: Ich bin erst seit zwei Stunden in Osaka, wir fahren über die Brücke auf das Sky Building in Umeda zu, ein Wolkenkratzer in der Form eines Magneten, Wolken und die Häuser der Umgebung spiegeln sich in der Fassade, die Reflexionen schwimmen in der Hitze – es sind 31 Grad, und es ist furchtbar schwül, die Wettermenschen im Fernsehen sprechen ununterbrochen vom nahenden Taifun.
Yuri und ich sind unterwegs nach Kobe. Wir sprechen miteinander Koreanisch, denn sie, eine koreanischstämmige Japanerin, ist in eine koreanische Schule gegangen. Ich sage, in eine südkoreanische Schule (hankuk hakkyo), sie verbessert mich, sie nenne sie uri hakkyo, unsere Schule. Ich wundere mich leise, laut frage ich, Sie sind in die Schule gegangen, in die wir unterwegs sind? Sie nickt, und der Direktor, sagt sie, sei ein ehemaliger Klassenkollege, aus ihm sei etwas geworden, aus ihr nicht. Sie lacht schallend und biegt ab, ohne zu blinken.
Yuri hat das Nudelrestaurant ihrer Eltern übernommen, seit diese zu krank sind, um sich um das Geschäft zu kümmern, ihre Mutter hat Alzheimer im Anfangsstadium. Yuri wollte ursprünglich Bilder malen, von früh bis spät, sagt sie und lächelt. Sie ist die Älteste von insgesamt fünf Geschwistern, die jüngste Schwester ist Mitte dreißig, eine Tänzerin, die nach Los Angeles ging, aber nach Japan zurückkam, weil sie, so Yuri, einfach nicht gut genug sei. Von den anderen zwei Schwestern und dem Bruder erfahre ich nichts, nur dass sie wie sie in die koreanische Schule gegangen sind. Ihr Vater habe Koreanisch gelernt, erzählt sie, als sie in der Grundschule das koreanische Alphabet durchgenommen habe, er sei neben ihr gesessen und habe mit ihr das Schreiben geübt, nun lese er sogar die koreanische Zeitung. Ihre Mutter sei wie sie in die koreanische Schule gegangen, aber sie habe die Sprache inzwischen vollkommen verlernt, zu Hause werde nur Japanisch gesprochen.
Zwei goldene Fotorahmen
Wir biegen ab, weg von der vierspurigen Straße in eine schmale Seitengasse, und fahren prompt gegen die Einbahn, macht nichts, meint Yuri und fährt einfach im Rückwärtsgang weiter, die Schule sei gleich um die Ecke.
Ein großer sandiger Sportplatz mit zwei Toren liegt vor dem gelben Schulhaus, umzäunt von einem dünnen Drahtzaun. Die Bodenmarkierung wehrt sich erfolglos gegen die Zeit, und auch das dreistöckige Gebäude ist lädiert, die Farbe an den Wänden ist fast vollkommen abgeblättert, die Stufen sind durchgetreten; obwohl Unterricht ist, wirkt die Schule verlassen. Durch das Treppenhaus zieht es, es fühlt sich an, als gingen wir im Freien, vielleicht liegt das auch an der Höhe der Wände?
Wir kommen an den zwei Waschräumen vorbei, sie sind farbkodiert, Rot für die Mädchen, Blau für die Buben, vor jeder Tür aber stehen grüne Gummistiefel. Warum?, frage ich. Für die Schüler, sie brauchen sie zum Putzen, sagt Yuri. Später erfahre ich, dass es kein Putzpersonal gibt, die wenigen Lehrer der Schule erhalten nur ein kleines Gehalt, Direktor Kim selbst musste schon auf ein paar Monatsgehälter verzichten.
Es wurde nicht ausbezahlt?, frage ich nach und wundere mich wenig, als er dies bestätigt. Die Erklärung hängt im Rektorat an der Wand, direkt über mir: ein Porträt von Kim Il Sung und eines von Kim Jong Il, zwei kleine, dezent golden gerahmte Fotografien – ich befinde mich in einer nordkoreanischen Schule.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehrten viele der fast zweieinhalb Millionen Koreaner, die es entweder freiwillig oder als Zwangsarbeiter nach Japan verschlagen hatte, nach Korea zurück. 1946 befanden sich noch etwa 650.000 im Land, ihnen wurde, nachdem man ihnen bereits das Wahlrecht genommen hatte, ein Jahr später auch die japanische Staatsbürgerschaft entzogen. Nach dem Ende des Koreakriegs, 1953, wurden aus ihnen Staatenlose, da Japan weder Nord- noch Südkorea als souveräne Staaten anerkannte, erst mehr als zehn Jahre später konnten jene, die es wünschten, einen südkoreanischen Pass beantragen.
Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die koreanischstämmigen Japaner aber bereits gespalten: Einige hatten sich auf die prosüdkoreanische Seite geschlagen und den Verband Mindan gegründet, die Mehrheit aber war Mitglied bei Chongryun, der pronordkoreanischen Seite. Einige von ihnen haben inzwischen einen nordkoreanischen Pass, aber nicht alle – viele beantragten wie Yuri und ihre Familie den südkoreanischen Ausweis, sind aber mehr in die Chongryun-Verbandstätigkeit involviert; die Staatsbürgerschaft ist für Chongryun nicht ausschlaggebend, da sein erklärtes Ziel die Rückkehr aller japanischen Koreaner in ein wiedervereinigtes Korea ist, dafür gründete er bereits in den Jahren nach dem Koreakrieg Grundschulen, Gymnasien und sogar Universitäten.
Diese Bau- und Lehrtätigkeit wurde vom nordkoreanischen Staat finanziert, oder, wie Herr Kim sagt, zuerst von Kim Il Sung und danach von Kim Jong Il, daher auch die Bilder. Früher hätten sie in jedem Klassenzimmer gehangen, verteidigt er sich, heute finde man sie nur noch im Rektorat. In jeder Schule würden doch die Bilder der Präsidenten an die Wände gehängt, sagt er.
Wo ist Kim Jong Un?
Ich lächle. Und wo, frage ich, ist der Dritte im Bunde? Er runzelt die Stirn; er versteht nicht, was ich meine. Es fehlt doch einer, sage ich. Wo ist Kim Jong Un? Der Direktor grinst, von Kim zu Kim. Das hat keine Eile, sagt er, schauen wir mal. Dann sagt er, und seine Stimme wird wieder ernst, es gehe darum, dass die Kinder die Sprache und Kultur Koreas kennenlernen, und nicht um Ideologie, es gehe um eine Zukunft ohne kulturelle Barrieren, und dies beginne bei der Erziehung.
Er führt Yuri und mich durch das Haus, wir besuchen die Klassenräume, plaudern mit den Schülerinnen und Schülern. Ich werde als Deutsche vorgestellt, ein Schüler ruft daraufhin „Schweinsteiger!“ und dackelt in der Pause hinter uns her; wann immer ich mich umdrehe, lacht er und winkt. Viele Räume sind leer, nur an die dreißig Schüler besuchen diese Schule, jährlich werden es weniger, sie alle wandern ab, in die japanischen und neuerdings auch südkoreanischen Schulen; die obersten Klassenzimmer werden als Lagerräume verwendet.
Die Schulbibliothek sieht aus wie ein Sitzungszimmer, ich bemerke kaum die Regale an den Wänden, da diese recht niedrig sind; der Raum wird von einem runden Tisch und schwarzen Lederstühlen dominiert. Auch traditionelle koreanische Musikinstrumente, eine Zither, Gayageum, und Trommeln liegen hier bereit. Herr Kim deutet auf die Bücher, auf der rechten Seite befinden sich unsere Bücher, sagt er, jene, die in Nordkorea gedruckt wurden, auf der linken Seite Bücher aus Südkorea und ganz weit rechts, sagt er, welche aus Japan, die habe er fast vergessen. An den Wänden im Flur hängen Fotos von Klassenausflügen nach Pjöngjang und in die nordkoreanischen Berge, dazwischen sind kleine nordkoreanische Flaggen aufgemalt; aber es hängen auch Zeichnungen vom Unterricht, die Masken, die die Kinder zum Trocknen auf den Boden gelegt haben, werden diese ablösen, wohl aber nicht die Fahnen.
Das Gebäude sei 1967 erbaut worden, seither sei es nicht verändert worden, das einzig Neue sei das Feuerlöschsystem, die japanische Verwaltung habe sonst mit der Schließung der Schule gedroht, eigentlich könnten sie es sich nicht leisten, auch aus Japan würden sie keine finanzielle Unterstützung erhalten. Wir sind im dritten Stock, im Hintergrund sehe ich die japanische Schule, an der wir vorbeifuhren, und dann höre ich sie – ein Gong kündigt die Pause an, und die Rufe und Schreie der Kinder dringen ins Freie, vor allem aus dieser Richtung. Aber wenn es nicht um Ideologie gehe, wende ich mich erneut an den Direktor, warum dann nicht die zwei Porträts im Büro verbannen und von Südkorea und Japan finanzielle Unterstützung erhalten?
Herr Kim sieht mich wortlos an. Dann schüttelt er energisch den Kopf, das gehe auf keinen Fall, sagt er, dann müssten sie ja den ganzen Studienplan ändern. Ehe ich antworten kann, unterbricht uns der Kleine von vorhin, unterstützt von seinen Kommilitonen auf dem sandigen Fußballfeld, auf dem die Tore schief in der Erde stecken, sie winken und rufen: „Schweinsteiger!“
■ Die Autorin ist Schriftstellerin und lebt in Wien. 2012 erschien ihr Roman „Anatomie einer Nacht“ (Suhrkamp). Romanrecherchen führten sie nach Südkorea und Japan.