: Noch kein Luther
PAPST Franziskus fordert seine Kirche zum Wandel auf. Kritiker sehen den Kirchenchef als cleveren PR-Strategen
PAPST FRANZISKUS
VON MICHAEL BRAUN
Schon seit einer halben Stunde klagt der Altgewerkschafter aus Mailand sein Leid. Seit Jahrzehnten ist er aktiv, immer bei den Linken. Ganz früher war er bei der glorreichen Kommunistischen Partei Italiens eingeschrieben, dann machte er den Wandel unter leisem Murren mit, die Wende erst zu den Linksdemokraten, die Gründung dann der Partito Democratico. Doch letztes Jahr war Schluss, „ich habe den Mitgliedsausweis nicht erneuert, links ist bei denen ja gar nichts mehr“ , erzählt er mit finsterem Gesicht, doch sofort hellen sich seine Züge auf. „Dafür trete ich jetzt in die katholische Kirche ein, auch wenn ich total ungläubig bin – unter Franziskus wird das ja ein richtig linker Verein!“
Kleine Wunder wie dieses häufen sich in letzter Zeit. Und die Wunder werden sich wohl fortsetzen. Vor einigen Tagen veröffentlichte der Papst sein erstes apostolisches Schreiben „Evangelii Gaudium“, „Die Freude des Evangeliums“. Gleich fünf Fronten macht Franziskus da auf – ganz so, als habe er als sein eigener McKinsey-Berater einmal gründlich das Unternehmen analysiert, für das er da tätig ist: Rückbesinnung aufs Kerngeschäft, ein neues Verhältnis zur Kundschaft, dazu eine Radikalreform der Organisation, die Neumotivierung des Personals und schließlich ein neuer Blick aufs unternehmerische Umfeld („die Moderne“) sind die Stichworte.
Und gleich beim Kerngeschäft präsentiert sich Franziskus mit heiligem Zorn, ganz so wie sein Namensvetter (der aus Assisi): „Diese Wirtschaft tötet“, donnert er, als wäre er Befreiungstheologe – und belässt es nicht beim Mosern über „entfesselte Marktkräfte“, wie wir es auch schon von Wojtyla und Ratzinger kannten.
Diese Welt gefällt Papst Bergoglio einfach nicht – weniger wegen der allgegenwärtigen Sünde als wegen der verbreiteten Armut: „Wir dürfen nicht vergessen, dass der größte Teil der Männer und Frauen unserer Zeit in täglicher Unsicherheit lebt, mit unheilvollen Konsequenzen. Häufig erlischt die Lebensfreude, nehmen Respektlosigkeit und Gewalt zu, die soziale Ungleichheit tritt immer klarer zutage. Man muss kämpfen, um zu leben – und oft wenig würdevoll zu leben.“ Und dann legt er nach mit seinem Nein zur „Gesellschaft der Ausschließung“: „Die Ausgeschlossenen sind nicht ‚Ausgebeutete‘, sondern ‚Müll‘, ‚Abfall‘“ – drastische Töne, wie man sie aus sozialdemokratischen Reihen kaum noch hört.
Nicht mehr so richtig zum Kerngeschäft scheinen dagegen die kleinen bis mittelgroßen Sünden zu gehören, über die sich Bergoglios Vorgänger so richtig ereifern konnten. Kardinal Ratzinger soll seinerzeit hellauf empört gewesen sein, als nach dem Welttag der Jugend 2000 in Rom die Wiese, auf der die „Papa-boys“ und „Papagirls“ gezeltet hatten, mit Präsern übersäht war. Solche Aufregung scheint Franziskus fremd zu sein: Kondome, Scheidungen, voreheliche Keuschheit – das kommt in seiner Botschaft schlicht nicht vor.
Daraus erwächst dann auch ein deutlich kundenfreundlicherer Auftritt. Die Priester seien „keine Kontrolleure der Gnade“, die Kirche „keine Zollstation“ zum Himmelreich, statuiert Franziskus, dann stört er sich an „Normen, die uns in unnachsichtige Richter verwandeln“, und dekretiert, der Beichtstuhl sei „keine Folterkammer, sondern ein Ort der Barmherzigkeit des Herrn“. Die Predigten? Kurz und vor allem mit dem „rechtem Maß“: „Wenn zum Beispiel ein Pfarrer während des liturgischen Jahres zehnmal über die Enthaltsamkeit und nur zwei- oder dreimal über die Liebe oder über die Gerechtigkeit spricht, entsteht ein Missverhältnis.“
Da sind die Folgen für die Organisation nicht fern. Ganz als wäre er Gorbatschow, wird Perestroika angeordnet, Schluss mit einer Kirche, die „der Mittelpunkt“ sein will, hin zu flachen Hierarchien, Schluss mit der Überzentralisierung aller Macht in Rom, wie sie Johannes Paul II. und Benedikt XVI. durchgesetzt hatten, hin zu größerer Selbständigkeit der Ortskirchen – und Schluss mit dem Allmachtsanspruch des Papstes, von dem man gefälligst keine „endgültige oder vollständige Aussage zu allen Fragen erwarten muss, welche die Kirche und die Welt betreffen“.
Zu einer Welt, die Franziskus übrigens nicht als Ort der „Moderne“ geißelt, stattdessen redet er lieber wie ein Soziologe über die Städte des 21. Jahrhunderts: „Es gibt Bürger, die die angemessene Mittel für die Entwicklung des persönlichen und familiären Lebens erhalten, andererseits gibt es aber sehr viele „Nichtbürger“, „Halbbürger“ oder „Stadtstreicher“.
Das überzeugt nicht alle. Piergiorgio Odifreddi, Mathematiker und Italiens wohl bekanntester Antiklerikaler, zum Beispiel kommentierte das „Evangelii Gaudium“ bissig mit den Worten, ihm sei Ratzinger allemal lieber, der wenigstens sei Theologe, Bergoglio dagegen bloß gewiefter PR-Stratege, der „dem Publikum das konzediert, was es will“, in Fragen der Doktrin jedoch „wenig bis nichts zu sagen hat“.
Das ist nur zu wahr. In Fragen der „Doktrin“ hält dieser Papst sich komplett zurück; Umsturz ist auf diesem Feld einstweilen nicht zu erblicken. Den Luther gibt er bisher nicht, stellt weder Marienverehrung noch Heiligenkult noch auch das Priesterzölibat in Frage. Dennoch drängt sich der Verdacht auf, dieser Papst habe schon mehr vor als bloß ein wenig Imagepflege mit seinem penetranten Reden von einer „armen Kirche für die Armen“. Vielleicht schaut ja noch ein III. Vatikanisches Konzil heraus – zum Beispiel 2017, pünktlich zum 500. Jahrestag der Reformation.