: 170 Festnahmen bei Protestmarsch
RUSSLAND Polizei in Moskau geht mit äußerster Brutalität gegen Demonstration der „Andersdenkenden“ vor. Den Verhafteten drohen jetzt wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt bis zu 15 Tagen Haft
MOSKAU taz | Premierminister Wladimir Putin hatte den „Andersdenken“ in Russland am Wochenende etwas Hoffnungen gemacht. Im Gespräch mit Künstlern bei Kaffee und Kuchen in St. Petersburg präsentierte sich der Premier von einer ungewöhnlich verständnisvollen Seite: Was solle schlecht daran sein, wenn Bürger sich versammelten und die politischen Machthaber auf wunde Punkte hinwiesen, meinte er sinngemäß. Ein Musiker hatte sich über die restriktive Praxis der Behörden im Umgang mit der im Verfassungsartikel 31 verbürgten Versammlungsfreiheit beklagt. Jeden 31. eines Monats zieht die Opposition für Versammlungsfreiheit auf die Straße, die meisten Veranstaltungen werden unter fadenscheinigen Vorwänden nicht genehmigt.
Putins aufmunternde Worte zeigten Wirkung. In Moskau versammelten sich mehr als 600 Menschen auf dem Platz des Triumphes, obwohl sein Pressesprecher die Chef-Auslassungen unmittelbar nach dem Auftritt zurechtrückte: Eine Lizenz zum Demonstrieren hätte Putin nicht erteilt. Ein unüberschaubares Aufgebot von Polizei und Sondereinheiten des Innenministeriums bestätigte dies.
Auf dem Platz vor dem Tschaikowsky-Saal gingen die Ordnungskräfte mit aller Härte gegen friedliche Demonstranten vor. Gezielt stürzten sich Sicherheitskräfte auf einzelne Teilnehmer, zerrten sie aus der Menge und schleppten sie in Polizeibusse. An die 170 Demonstranten wurden festgenommen. Einem wurde auf der Wache vorsätzlich der Arm gebrochen. „Um vorzubeugen“, soll ein Polizist laut gazeta.ru gesagt haben. Mehrere Demonstranten berichteten, dass sie im Gewahrsam zusammengeschlagen worden seien. So weit ging die Polizei bei früheren Demonstrationen nicht.
Die politischen Köpfe der Opposition wurden aber verschont. Eduard Limonow vom Anderen Russland und prominente Menschenrechtler, darunter die Grande Dame der Dissidenz, Nina Alexejewa vom Moskauer Helsinki-Komitee, konnten den Ort ungehindert verlassen.
Die Demonstration war mit dem Hinweis untersagt worden, dass die Jugendgruppe „Molodaja Gwardija“ am selben Tag eine Veranstaltung auf dem Platz plante. Das ist inzwischen gängige Praxis. Sobald die Opposition eine Kundgebung beantragt, haben schon die jugendlichen Eventmanager des Kreml den Ort für sich vereinnahmt.
Die putintreue Truppe beging den Tag des Blutspenders. 30 Liter Blut für das Vaterland waren gezapft worden, verkündete ein Jungaktivist in martialischem Duktus eines Bestarbeiters. Die Blutspender stellten sich namentlich vor und wurden gefeiert, als kämen sie vom Fronteinsatz zurück. Zuschauer quittierten dieses makabre Schauspiel mit „Faschisten“-Rufen. Ansonsten gingen die sporadischen Sprechchöre „Russland ohne Putin“ jedoch im ohrenbetäubenden Lärm des patriotischen Rocks unter, mit dem die Szenerie beschallt wurde.
Bislang erhielten festgenommene Demonstranten wegen Teilnahme an einer nicht genehmigten Veranstaltung eine Ordnungsstrafe. Seit Montag lautet die Anklage auf Widerstand gegen die Staatsgewalt. Darauf stehen 15 Tage Haft.
KLAUS-HELGE DONATH