Verrutschte Realität: Die Stadt ist die Story

TURNER PRIZE Die renommierte Auszeichnung geht an die französische Konzeptkünstlerin Laure Prouvost – und an Derry/Londonderry!

VON MARION DOUGLAS

Um die 100.000 Einwohner hat die Stadt Derry/Londonderry, die zu einem der Mittelpunkte im Nordirlandkonflikt wurde. Dass die Stadt in diesem Jahr die Schau zum meistdiskutierten Kunstpreis Großbritanniens, dem Turner Prize, ausrichtete, ist ein Höhepunkt der Entwicklung eines „astronomischen Aufschwungs“.

Mit dem irisch-englischen Friedensprozess seit 1998 verschwanden die Stacheldrahtzäune, die das katholische Bogside-Viertel umspannten. Die im Konflikt zerstörten Gebäude wurden wiederaufgebaut und frisch renoviert. Das ehemalige Militärhospital wird demnächst ein Meereskundemuseum sein. Eine neue, überdimensionale Brücke über den Fluss Foyle verbindet die Viertel, die Katholiken von Protestanten trennte. Sie heißt „Peace Bridge“. Der heute wieder pittoresk wirkende Ort zieht neben Touristen nun auch die Kunstwelt an. Der Londoner Tate-Direktor Nicholas Serota dankte der Stadt dafür, Gastgeberin des Turner Prize zu sein, und Derry/Londonderry dankt es ihm. Die Ausstellung dazu wurde symbolträchtig in ehemaligen Militärbaracken installiert, die während des Konflikts britische Soldaten beherbergten.

Wer den mit 25.000 Pfund dotierten Turner Prize gewinnen würde, erschien weniger wichtig als je zuvor: Die Stadt ist die Story, und sie ist der eigentliche Gewinner. Um die dreißigtausend Besucher hatte die Ausstellung bisher, darunter auch viele Einheimische. Nominiert waren Laure Prouvost, Tino Sehgal, David Shrigley und Lynette Yiadom-Boakye. Alle Turner-Werke setzen sich mit dem Schauplatz auseinander.

Qualität egal

Sehgal wurde als Favorit gehandelt. Bei Sehgal betreten wir einen leeren Raum und werden von Menschen angesprochen, die ein Tauschgeschäft anbieten: die Meinung der Besucher über die freie Marktwirtschaft gegen ein Entgelt von einem Pfund Sterling. Wer will, kommt schnell auf das Thema Derry/Londonderry zu sprechen.

Interaktiv gibt sich auch David Shrigley. Er baute eine überdimensionale, nackte Plastikfigur mit karikiertem Gesicht in einen Raum. Sie darf von den Galeriebesuchern gemalt oder gezeichnet werden, und jedes einzelne Blatt soll während der Ausstellungszeit bis 5. Januar gezeigt werden. Die Qualität der Resultate kümmert Shrigley nicht. Es gehe ihm darum, keine Angst zu haben, Fehler zu machen, sagt er im Interview. Das sei für ihn der Schlüssel, gute Kunst zu machen.

Lynette Yiadom-Boakye malt Porträts, von denen man annehmen kann oder soll, dass sie nach Vorbildern bestimmter Menschen gemalt wurden. Tatsächlich aber sind sie Produkte der Einbildung und der Erinnerung. Die Londonerin spielt mit dem Genre der klassischen Porträtmalerei; ihre Modelle sind schwarz, entgegen der klassischen Konvention. Die in England lebende Französin Laure Prouvost machte schließlich das Rennen um den Turner Prize mit einem dunklen Erinnerungsspiel. Sie taucht das Andenken an einen fiktionalen Großvater ins Halbdunkel eines Kinoraums. Auf einer Leinwand läuft vor einem mit bizarren Töpferwaren gedeckten Teetisch ein Film über den Künstlergroßvater. Dabei verrutschen Realität, Witz und die Lust am Morbiden. In einem rosafarbenen Nebenraum mit schiefer Bodenebene läuft ein Film über die Großmutter, mit einer Tonspur von ersterbendem Flüstern und Herzschlag. „He is just interested in painting bottoms and not conceptual art“, lautet das Verdikt der Großmutter über den Künstlergroßvater. Dieser wollte einen Tunnel von seinem Atelier aus nach Afrika graben und verschwand eines Tages darin.