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Archiv-Artikel

Die Stadt der 1.000 Fußballdörfer

Sechs Spiele bis zum Finale: Mit ein bisschen Glück findet jeder Berlin-Besucher während der Weltmeisterschaft die zu ihm passende Fußballgemeinde. Und mit noch ein wenig mehr Glück kann es sogar an einem der unzähligen WM-Orte in der Stadt gelingen, eine Karte für das Endspiel zu bekommen

Fragen Sie einen der Stadtinsassen, der eine Plakette trägt: „Ich bin ein Berlinizer“

VON MICHAEL RINGEL

Ganz im Westen Berlins liegt das Olympiastadion. Es ist der Endpunkt einer Achse, die von Mitte aus, vorbei an Brandenburger Tor und Siegessäule, über die Straße des 17. Juni, die Bismarckstraße und den Kaiserdamm quer durch die Hauptstadt bis zum Olympiagelände führt. Einen Endpunkt allerdings wollten die Architekten seinerzeit nicht setzen, sie hatten nicht weniger als die Unendlichkeit im Sinn: Da im Westen die Sonne untergeht, ist das Stadionrund auf der Westseite durch das Marathontor eingeschnitten. 1936 wurde an dieser Stelle das olympische Feuer entzündet. Vor dem sinkenden Sonnenball sollte die lodernde Flamme Olympias die Achse durch die Stadt bis in die unendlichen Weiten des Weltalls fortsetzen. Eine Mischung aus sakralem Pathos und schlichtem Größenwahn.

Heute hat die Sonne bei Fußballspielen im Olympiastadion eine ganz profane Wirkung. Zwar bedeckt seit dem Umbau für die Weltmeisterschaft 2006 ein leichtes Membrandach die mächtige Schüssel, aber aus denkmalpflegerischen Gründen musste eine Lücke über dem Marathontor bleiben, sodass der Torwart auf der rechten Platzhälfte wie auch die traditionell dahinter in der Ostkurve untergebrachten Fans der Heimmannschaft von der tief stehenden Sonne geblendet werden. Kurz vor Spielende lässt das fahle Zwielicht die Zuschauer ruhiger werden. Auf den Rängen entfalten jetzt Bier und Schnaps ihre einschläfernde Wirkung. Das ist der Moment der Sonnenwende, der Spiele im Olympiastadion entscheiden kann. Daher lässt sich auch vorhersagen, wer im Endspiel am 9. Juli Weltmeister wird. Jedenfalls nicht das Team, das gegen die Sonne spielt. Es sei denn, es regnet. Aber dann ist sowieso wieder alles ganz anders.

Sie wollen dabei sein? Den Moment der Sonnenwende erleben? Einer der 74.400 Glücklichen im Olympiastadion sein? Sie möchten also Karten fürs Endspiel? Kein Problem! Sie müssen sie nur finden. In der Stadt der 1.000 Fußballdörfer, die Berlin einen Monat lang sein wird. Während der Weltmeisterschaft gibt es 738 Sportbars, die WM-Spiele live übertragen, sagenhafte 483 Veranstaltungen zur WM sind angemeldet worden, an mindestens zwölf Standorten sollen bis zu 50 Großbildleinwände aufgestellt sein. Sechs Siege braucht ein Team, um ins Finale zu kommen, sechs Spiele finden im Olympiastadion statt, Sie aber haben die Chance, an sechs WM-Orten Tickets aufzuspüren.

Rollen wir erst einmal auf der alten West-Ost-Achse zurück vom Olympiastadion bis zur Straße des 17. Juni, die vier Wochen lang für die größte WM-Veranstaltung gesperrt ist. Auf der so genannten Fan-Meile werden rund 100.000 Besucher täglich erwartet. Die Kirmes der Unterschicht wird zwar Bierbudenzauber und Massen von betrunkenen Fans aus unterschiedlichen Nationen aufbieten, Endspielkarten können Sie aber höchstens bei einem Losspiel gewinnen. Und bei so viel Konkurrenten ist ein Erfolg eher unwahrscheinlich. Dafür dürfen Sie an einer der 40 Fressbuden das Nationalgericht des Berliners kennen lernen: eine Wurst mit oder ohne Darm, die unter Unmengen Curry begraben ist, damit der Geschmack von rußigem Kokel und totem Tier überdeckt wird. Mit einer Currywurst in der Linken und einem Bierbecher in der Rechten werden Sie dann eingezwängt am Brandenburger Tor auf dem mit 64 Quadratmetern angeblich größten Bildschirm der Welt zusehen, wie sich die deutsche Mannschaft im ersten Spiel gegen Costa Rica schwer tut.

Tickets? Da bleibt wohl nur ein Sponsor. Der Großsponsor Adidas hat vor dem Reichstag ein Miniatur-Olympiastadion aufgebaut. Traditionell mauschelt Adidas mit der Fifa, sodass es den Herren der drei Streifen gelingen konnte, einen der prominentesten Plätze der Republik mit dem gewaltigen Kommerztempel zu besetzen. Hat die Fifa doch während der WM sowieso die Sonderrechte einer Besatzungsmacht, vor der die Stadt längst kapituliert hat. In der „World of Football“ aber soll der Krieg der Fußballschuhe gegen den größten Konkurrenten Nike gewonnen werden. Und dafür betreibt Adidas einen größenwahnsinnigen Aufwand, der selbst im realen Olympiastadion keinen Platz mehr findet. Will man Teil dieses Krieges sein? Endspieltickets finden sich sicher auch woanders.

Womöglich in der alten City West. Der Breitscheidplatz am Europa-Center ist der Vorhof des Gesindels. Hier treffen die Schöneberger Kappenträger auf die Weddinger Freibauchschnallen. Also sollten Sie lieber in der Umgebung über den Kurfürstendamm und den Tauentzien wandeln und das KaDeWe besuchen und diese zwischen Verfall und Modernisierung hin- und hergerissene – jetzt passt das schöne Siebzigerjahrewort endlich einmal – „Flaniermeile“ bewundern. Gegenüber vom KaDeWe übrigens gibt es auf dem Wittenbergplatz eine der wenigen tatsächlich guten Currywürste der Stadt. Und an der Ecke Fasanenstraße liegt das Hotel Kempinski, in dem die Brasilianer ihr Quartier haben. Dort werden die brasilianischen Fans sicher das eine oder andere Tänzchen aufführen, um ihre Götter hervorzulocken. Aber Tickets? Fehlanzeige.

Bei den Fernsehsendern am Potsdamer Platz könnten Sie es versuchen. Zumindest treffen Sie dort auf keine Berliner. Für Kiez-Berliner ist der Potsdamer Platz Niemandsland, ein Gebiet nur für Touristen, denen es wiederum egal ist, dass die „Potsdamer Platz Arkaden“ als Shopping Mall in Dubai, Dallas oder Oberhausen stehen könnten. Im gegenüberliegenden Sony-Center hat das ZDF sein Lager aufgeschlagen und will von hier aus mindestens 100.000 Stunden lang von der WM berichten. Bis zu 10.000 Menschen sollen dabei als Schwenkfutter für die Kameras auch der internationalen Sender wie CNN oder BBC dienen. Endspieltickets rücken die selbstverliebten Fernsehmenschen aber wohl nicht heraus.

So wie man eine Stadt nicht vom Zentrum aus verstehen kann und sie von der Peripherie aus entdecken muss, um zu sehen, was die Stadt im Innersten zusammenhält, so müssen Sie auf der Suche nach Karten weg von den Innenstadtbezirken. Im Treptower Park feiern Kreuzberg, Friedrichshain und Treptow ihre Vorstellung vom Fußball als Pop-Ereignis mit Musik, Konzerten, „Sport- und Spielprogrammen zum Mitmachen“ und allem, was dort „hip“ genannt wird. Das Programm heißt passend „Popkick 06“, erwartet werden bis zu 10.000 junge Besucher pro Tag. In der Treptower „Arena“ kann man ablesen, wie der Fußball als Teil des Popbusiness funktioniert. Man kann das positiv oder negativ beurteilen, man kann das Ganze aber auch mit dem entsprechenden Jargon in einem Satz zusammenfassen: Hier gibt’s die geilsten Weiber, weil hier die coolsten Jungs rumlaufen. Nur Tickets fürs Endspiel finden Sie hier nicht.

Dafür müssen Sie ganz weg von den Großveranstaltungen. Suchen Sie sich ein kleines Lokal, das auf die Spielpaarung und eines der beiden Halbfinalteams abgestimmt ist. Einer der wenigen echten Vorteile Berlins ist die weltläufige Küche. Es gibt Restaurants fast aller Weltküchen. So könnten Sie spätestens zum Halbfinale einen Tisch in einem brasilianischen Lokal reservieren. Das verspricht einen höllisch guten Abend mit Nachspiel, jedenfalls wenn die Seleção gewinnt. Doch diesen Ort müssen Sie, die Sie ja hoffentlich inzwischen zum Berlin-Kenner geworden sind, selbst suchen. Wir geben keinen Geheimtipp, auch nicht den Brasilianer am Mehringdamm in Kreuzberg. Nein, da müssen Sie schon selbst suchen und leider feststellen, dass Sie auch dort keine Tickets fürs Finale bekommen werden.

Kurz vor dem Finale aber wird es passieren. Sie werden einen Anruf bekommen. Es ist jener echte „Balliner“, den Sie auf Ihrer Reise durch die Stadt der 1.000 Fußballdörfer kennen gelernt haben. Er war zuerst unfreundlich und unwirsch, wie Berliner es eben sind. Jedenfalls waren Sie sehr freundlich zu ihm, denn Sie dachten, Berliner haben es schließlich auch nicht leicht mit ihren verbogenen Sprechwerkzeugen, aus denen ein krudes Plusquamperfekt quillt. Deshalb hat der Senat vor der WM sogar eigens eine Freundlichkeitsinitiative ins Leben gerufen und Plaketten an die Stadtinsassen ausgeteilt, auf denen geschrieben steht: „Ich bin ein Berlinizer“. Derart verzierte Berliner sollen Fremden auf nette Art Auskünfte über die Stadt geben. Und Sie haben einfach gefragt: „Bekomme ich bei Ihnen noch Karten fürs Endspiel?“ Und jetzt ruft dieser Berliner an und … – es ist wie im Traum: „Tickets? War nich leicht jewesen, aber haick jekricht jehabt, wa!“ Die Sonne leuchtet in Ihr glückliches Gesicht. Und Sie sind tatsächlich im Finale.