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Archiv-Artikel

Das Gemurmel der Welt

ZUSAMMENSPIEL Eine Sprachkünstlerin massiert ihre Leser kräftig durch – Brigitte Kronauers neuer Roman „Gewäsch und Gewimmel“

„Bin auf der Hut und fasse Mut, fass Courage für die Massage“

BRIGITTE KRONAUER

VON ULRICH RÜDENAUER

Ihre Patienten verfolgen die Krankengymnastin Elsa Gundlach in den Schlaf. Tausend Geschichten – Banales, Intimes und Schauerliches – massiert sie aus ihren Patienten heraus. Und was die ihr unter dem sanften Druck der Behandlung erzählen, treibt Elsa dann im heimischen Bett um.

Eva Wilkens oder Luise Wäns, der Schriftsteller Pratz oder Frau Fendel, dazu noch eine Horde weiterer Menschen mit Haltungsschäden und Rückenleiden – eine repräsentative Auswahl munterer Zeitgenossen trifft man in Brigitte Kronauers neuem Roman „Gewäsch und Gewimmel“. Man wird als Leser förmlich angerempelt von diesen Zeitgenossen, aus denen Sprechblasen mit phrasenhaftem Gestammel herausblubbern. Man kann dieser Bedrängnis kaum entkommen.

Was hier passiert, ist freilich auch ein Angriff der Gegenwart auf unsere übrige Zeit – die alltägliche Wirklichkeit okkupiert und drangsaliert uns, verschüttet Erinnerungen und Gedanken. Fortwährend müssen wir kommunizieren.

Brigitte Kronauer hat einmal von der „Nervosität zwischen den Menschen“ gesprochen. Die ist hier spürbar. Flüchtig sind die Begegnungen, flatterhaft die Gespräche, rasant und kurz die Erlebnisse. Wie in einem Regenbogenblatt – mehr vielleicht wie bei einer Newsline im Internet – poppen Nachrichten und Geschichten wild durcheinander auf, besagen alles und nichts und verbinden sich untergründig doch zu einem großen, die Welt zusammenhaltenden Gemurmel. Jeden Morgen wahrt Therapeutin Elsa dennoch die Fasson und balanciert sich mit einem Leitsatz ins Gleichgewicht: „Bin auf der Hut und fasse Mut, fass Courage für die Massage.“

Auch dem Leser sei das angeraten. Mut zu fassen, sich in das Gewimmel und Getaumel zu stürzen. Alle Medien massieren uns gründlich durch, schrieb der Kulturtheoretiker Marshall McLuhan. Kronauers Roman tut das ohne Zweifel, und noch dazu in kunstvoller Sprache. Dabei stellt sich ein interessanter Effekt ein, der auch an komplexen Gemeinwesen beobachtbar ist: Da gibt es lauter einzelne Systeme, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, auch in unterschiedlichen Sprachen kommunizieren, dann aber doch im Zusammenspiel ein Ganzes ergeben. Totalität konstituiert sich aus einzelnen Erzählfragmenten, Episoden, Gefühlen.

Nervosität der Menschen

Dieses Weltbild, das von Brigitte Kronauer entworfen wird, ist ein Gemisch aus Kontingenz und Konsistenz. Den Geistlichen Dillburg lässt sie einmal die Poetologie ihres Romans, vielleicht sogar ihres Werks formulieren: „ ‚Manchmal glaube ich‘, beginnt er vorsichtig, dass wir selbst und mit uns alles, was sich unterhalb der Unendlichkeit befindet, Anekdoten sind, Anekdoten um einen göttlichen Funken herum. Wir kristallisieren uns um ihn herum in Geschichten und Episoden, versuchen Sie bitte einmal, die Überlegung nachzuvollziehen. Frau Fendel, liebe Freundin, auch wenn das Episodische oft diesen Splitter des Ewigen völlig zuwuchert. Ganz zerstören lässt er sich nicht. Er ist es, der die Lebensszenen letzten Endes bemerkenswert macht, und wir, wir müssen entdecken, dass sie von ihm zeugen.“

Die Form von Brigitte Kronauers „Gewäsch und Gewimmel“ entspricht genau diesem Kristallisationsprozess, nur dass ein göttlicher Funke, der transzendente Sinn in diesem Weltbild durch einen poetischen ersetzt ist: Das Erzählen selbst wird zur leuchtenden Ewigkeit.

Der Roman besteht dabei aus kleinen Absätzen im ersten und dritten Teil, Geschichten und Rätseln und Kuriositäten, in denen die Figuren uns in rascher Folge präsentiert werden wie auf einer Drehbühne. Der zweite Teil, die schwere Achse des Buchs oder die Mitte des Triptychons, liefert eine 200-seitige Liebes- und Huldigungsgeschichte. Erzählt aus der Perspektive von Luise Wäns, geht es da um einen Sonnenkönig namens Hans, der einen Naturpark anlegen will und so viel Bewunderung auf sich zieht, dass er einen treuen Hofstaat um sich schart.

Die schon etwas ältere Frau Wäns liebt diesen Hans, ihre Tochter Sabine gewinnt ihn als Ehemann. Hans wiederum ist vernarrt in ein junges Indianermädchen mit Namen Anada. Keiner bekommt, was er möchte; in seiner Komplexität ist dieser Liebesreigen das Gegenbild zu den vermischten Betrachtungen in Teil eins und drei des Romans. Luise Wäns wird aus dem Durcheinander herausgehoben. Einem Individuum wird zu seinem Recht verholfen, sein Innerstes nach außen gekehrt.

Die Luise-Wäns-Episode ist handlungsreich: eine Geschichte, die alle Grenzen, zumal jene des engen Naturschutzgebietes, in dem sie angesiedelt ist, zu sprengen scheint. Ihre Besonderheit ist das Unbestimmte. Man weiß, was da geschieht, aber es gibt eine leichte Verschiebung hin zum Geträumten. Unser Realitätssinn wird befriedigt und zugleich auf die Probe gestellt. Die Natur, in der Luise Wäns gedankenverloren herumspaziert, erweist sich als stumme Kehrseite des Sozialen, als Spiegel auch für die Sehnsucht des Einzelnen, aus dem Käfig seiner Rolle auszubrechen und vielleicht erst ein Selbst zu sein.

Kronauer erzählt das, indem sie die Realität aufsplittet in ihre Teile, die sie dann wieder zusammenfügt, ohne Ecken und Kanten abzuschleifen. Dabei entsteht ein dichtes Geflecht an Motiven – Natur und Liebe, Verlangen und Resignation. Im Grunde aber, wenn sich das Gewimmel nach und nach im Leserkopf ein wenig ordnet, merkt man: Es geht um letzte Dinge.

Ein rasendes Glück

Es wird viel gestorben, teilweise auch auf brutale Weise. Unsere Sensationslust an der Trivialität des medial verwerteten Todes wird hier allerdings zur Farce. Das Triviale ist zugleich immer tragisch, das Tragische trivial. Der Tod verbindet. „Nichts war erklärbar ohne das Wirken und Vibrieren der Gestorbenen, die als feinste Partikel alles durchdrangen in verwandelter, unleugbarer Anwesenheit. Es traf ihn wie ein Blitz, Dolch, Pistolenschuss, packte ihn als rasendes Glück.“ Der Tod macht zugleich alles erst bedeutsam. Und er kann nur, indem man von ihm erzählt, gebannt werden.

Jean Paul, einer der Hausgötter von Brigitte Kronauer, nannte sein Spätwerk einen „Papierdrachen“. Das Werk begriff er als ein Sammelsurium von Texten, die man immer wieder neu kombinieren kann, die niemals fertig sind: erschriebene Unendlichkeit oder Unsterblichkeit. Das wurde zu seinem Hauptprojekt – mit einem immer weiter ausfransenden, unabschließbaren Text gegen den Tod anzuschreiben. Brigitte Kronauers Bücher, gerade auch ihr neuer Roman, sind in diesem Sinne ebenfalls unabgeschlossen. In jeder Zeile sind sie anschlussfähig an die Fantasie und Empathie des Lesers. Und dabei setzen sie, zu unserem Vergnügen, die Wirklichkeit und das Sprechen über die Wirklichkeit in ein fast zum Reißen gespanntes Verhältnis.

Brigitte Kronauer: „Gewäsch und Gewimmel“. Klett-Cotta, Stuttgart 2013, 612 Seiten, 26,95 Euro