: Ein „standardmäßiger“ Eingriff
ARZTHAFTUNG Um besser atmen zu können, ließ sich K. die Nasenscheidewand korrigieren. Heute ist er behindert. Was für ihn ein ein klarer Kunstfehler ist, ist für den behandelnden Professor ein allgemeines Operationsrisiko
VON JAN ZIER
David K. hatte eine spitze Nase. Er konnte nicht richtig atmen. Aber nichts schlimmes, an sich, schon gar kein Notfall. Und was folgte, war etwas, was sein Arzt noch immer einen „standardmäßigen Eingriff“ nennt: Die Nasenscheidewand sollte korrigiert werden. Das war 1999. K. hatte gerade Abitur gemacht, Notendurchschnitt: 1,7. Er wollte Lehrer werden, wie sein Vater.
Heute hat Herr K. eine runde Nase. Aber er ist gelähmt, kann weder gehen noch stehen, wird immer auf den Rollstuhl angewiesen sein. Sein Verstand ist klar und präzise, aber seine Gedanken kann er nur sehr langsam und undeutlich in Worte fassen. Herr K. ist behindert. Und zwar genau seit jener Operation. Er erlitt dabei eine Hirnblutung. Seine Keilbeinhöhlenhinterwand wurde verletzt. Und mit ihr jener Bereich des Gehirns, der genau dahinter liegt. Durch ihn laufen alle Nervenfasern.
Seit diesem Tag im Sommer des Jahres 1999 kämpft K. um Schadensersatz und Schmerzensgeld und den Verdienstausfall eines möglichen, lebenslangen Daseins als Lehrer in Bremen. 2001, da hat sein damaliger Anwalt vorerst 300.000 Mark geltend gemacht. Inzwischen geht der Streitwert in die Millionen – Euro, natürlich. Zahlen soll sie Prof Dr. Dr. B., Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurg am Klinikum Bremen-Mitte, das seinerzeit noch Zentralkrankenhaus hieß. Jetzt trafen sich beide Seiten erstmals vor dem Landgericht Bremen. Jede von ihnen hat sich mit mehreren Gutachtern gerüstet, alles Professoren.
Sie sollen die Schuldfrage klären, die Frage beantworten, wie all das kommen konnte, die „Katastrophe“, wie einer es nennt, detailliert rekonstruieren. War es ein „Kunstfehler“, wie K. behauptet – also: Ärztepfusch? Oder aber etwas, wie die Gegenseite vorträgt, womit man als Chirurg gar nicht rechnen musste? Immerhin: Die Behandlung von Nasenverletzungen hat eine lange Geschichte, wird schon 3000 vor Christus beschrieben. Eine zerstörte Nase wiederherzustellen galt seit dem Altertum als eine der größten Herausforderungen für Chirurgen.
Vor Gericht muss Herr K. schweigen. Er wird gar nicht gefragt. Und sein Arzt von damals spricht beim Prozess kein Wort zu ihm. Dafür erklärt er anhand eines Totenschädels aus Plastik sowie eines stählernen Medizinkoffers mit allerlei Werkzeug, darunter Hammer und Meißel, wie die Operation von statten gegangen sein soll. Das finden alle Seiten noch plausibel. Doch damit endet die Einigkeit. Ein hitziger Expertenstreit entbrennt.
Da ist auf der einen Seite Joachim Krauss, ein Neurochirurg. Er sagt, die „einzige Möglichkeit“, wie es zu der Hirnblutung habe kommen können, sei eine „Stichverletzung“. Die kämen häufiger vor als man glaube. Ihm zur Seite steht ein Neuroradiologe aus Lübeck. Auch er sagt, anhand der Bilder aus der Computertomographie sei „eindeutig“ das „unverwechselbare Bild eines Stichkanals“ festzustellen. Und dann sei da noch der Hinweis des Anästhesisten während der Operation, dass der Puls auf 30 herabgesunken war. Ein „Hirndruckzeichen“, auf das nicht reagiert worden sei. Wenn all dies stimmt, wäre B. verantwortlich. Der habe nicht gemerkt, was er meißelt, raunt ein Arzt im Publikum, der weiß, wovon er spricht, aber nicht genannt werden will. Weder befähigt noch befugt sei der Kollege gewesen, sagt er.
Herr B. hat naheliegenderweise eine ganz andere Erklärung. Denn, so sagt Ingo Springer, ein Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurg wie B., „unter normalen Umständen ist es nahezu unmöglich, mit diesem Instrumentarium so eine Verletzung hervorzurufen“. Vor Gericht wird das plastisch beschrieben. Springer spricht von einer indirekten Verletzung, ausgelöst durch eine Druckwelle. Die fragliche Stelle in der Nasennebenhöhle wäre demnach schlicht aufgesprengt worden, geborsten durch fortgeleiteten Druck. Gleichwohl, sagt Springer, sei nur „schwer nachzuvollziehen“, wie es zu der Blutung kam. Er spricht von einer „Wahrscheinlichkeitsrechnung“. Zumal der Fall des Herrn K. ein „extrem individueller“ sei. Er hatte eine sehr seltene, angeborene Gesichtsfehlbildung. Am Ende, sagt der Verteidiger des Operateurs, waren die Komplikationen „nicht vorhersehbar“. Und Folge eines „allgemeinen Operationsrisikos“. So habe es auch das Schlichtungsverfahren vor der norddeutschen Ärztekammer gesehen, die sich mehrere Jahre lang um Einigung bemüht hatte. Erfolglos. Auch vor dem Landgericht scheitert jeder Versuch einer gütlichen Einigung im Ansatz. Am Ende wird das Gericht entscheiden. Es wird nicht die letzte Instanz bleiben.
Die Zahl der Arzthaftungsverfahren steigt ohnedies: Schon 2007 waren es 11.500 in ganz Deutschland, fast 18 Prozent mehr als drei Jahre zuvor. Auch die Schlichtungsstellen der Ärztekammern verzeichnen wachsenden Zuspruch. Im Schnitt wird jeder vierte Beschwerdefall dort als Behandlungsfehler anerkannt. Dennoch, sagt die Bundesärztekammer, passierten Kunstfehler nur in 0,0002 Prozent alle Fälle. Ob der des K. einer von ihnen ist, das wird sich vielleicht nie ganz klären lassen.