Die Individualität der Gruppe

TANZZEIT 2010 600 Schüler stehen auf der Bühne des Radialsystems. Doch TanzZeit geht es nicht um Casting, sondern um den Tanz ganzer Klassen. Nach fünf Jahren ist die Finanzierung des Programms erstmals gesichert

Keine Klasse spult tradierte Muster ab. Die Choreografien sind immer auf die Gruppen zugeschnitten

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Dass das Lernen selbst zum ästhetischen Erlebnis wird, ist nicht oft der Fall. Beim Projekt TanzZeit im Radialsystem passiert es: Man spürt noch im Moment der Aufführung, welche Hindernisse mit ihr überwunden wurden. Für die eine Klasse ist es schon viel, wenn es ihr gelingt, sich als mehr zu sehen als eine bloß zufällig zusammengestopfte Gruppe.

Es rührt an, wie es einer 9. Klasse der Adolf-Reichwein-Schule aus Neukölln, einer Schule für Lernbehinderte, gelingt, sich selbst in ihrer auffälligen Unterschiedlichkeit anzunehmen und die sonst auseinanderfallende Vielheit sogar in Gruppenstärke umzumünzen. Am Ende singen sie gemeinsam „My body is not a football for you to be kicked apart“, eine ironische Gegenwehr gegen das alltägliche Gefühl, herumgeschubst und stigmatisiert zu werde. Es ist, aber auch ein Sticheln gegen die beiden Choreografen, Ulrich Huhn und Francisco Cuervo, die an ihre Schule kamen, um mit ihnen, nun ja, Kunst zu machen.

Das Projekt TanzZeit, bei dessen Werkstattpräsentation bis Sonntag im Radialsystem am Ende 600 Schüler und 30 Berliner Klassen aufgetreten sein werden, leistet absolute Basisarbeit. Hier wird keiner gecastet, nicht das begabte Kind gesucht, sondern Tanz für ganze Schulklassen, Jungen und Mädchen, auf den Stundenplan gesetzt.

Auch im Education Program der Berliner Philharmoniker, die an diesem Wochenende mit der „Swing Symphony“ in der Arena Treptow auftreten (taz berichtete am Freitag), werden Kinder und Jugendliche aus verschiedenen sozialen Milieus einbezogen, die oft aber schon aus Leidenschaft eine Vorbildung im Tanz haben.

Unterricht ohne Lehrplan

TanzZeit dagegen setzt noch einen Moment früher und breiter an. Fünf Schulklassen aus Wilmersdorf, Spandau und Neukölln präsentieren sich am ersten Abend mit kurzen Auftritten. Wer jemals auf eine soziale Durchmischung der Gesellschaft gehofft hat, den kann schon ein oberflächlicher Blick auf die offensichtlichen Unterschiede der Gruppen davon überzeugen, wie weit entfernt davon eine Großstadt wie Berlin ist. Das Gute an TanzZeit aber ist, dass kein Lehrplan abgearbeitet werden muss, sondern die Tänzer und Choreografen, die sich für eine Schule entschlossen haben, ihre Arbeit dann genau auf diese Klasse zuschneiden.

Dies kann nicht immer gelingen kann. Das weiß auch Livia Patrizi, die TanzZeit vor fünf Jahren initiiert hat. Seitdem hat sie das Projekt nicht nur mit pädagogischen Geschick, sondern auch mit Hartnäckigkeit gegenüber der Politik ziemlich weit vorangebracht. Anfangs gab es den Vorwurf, es überfordere Kinder, Künstler und Schulen und verwechsle Kunst und Sozialarbeit.

Deshalb hat Patrizi darauf gesetzt, dass die Künstler nicht unterrichten, sondern auch selbst von Coaches unterrichtet werden. Da können Forsythe-Tänzer kommen, die ihr Wissen über Orientierung im Raum und Koordination von Abläufen weitergeben, aber auch Sozialarbeiter, Spezialisten für Gewaltprävention oder Didaktiker, die Lehrmethoden unterrichten. Und nicht zuletzt besuchen sich die Teilnehmer des Projekts gegenseitig in ihren Klassen, weil auch jeder der Künstler eine andere Fähigkeit zur Beobachtung mitbringt.

Nach fünf Jahren TanzZeit ist Livia Patrizi zu einer Expertin geworden, was die Beurteilung der Entwicklungsfähigkeit von Schulen und der Dynamik ihrer Lehrer angeht. Nur in der Zusammenarbeit mit diesen kann das Engagement der Künstler gelingen. Wenn die keine Kraft mehr haben, kann auch TanzZeit nichts ausrichten, weiß Patrizi. Sie hütet sich aber, Schulen, wo sie solche Erfahrungen gemacht hat, beim Namen zu nennen.

Immerhin 88 Schulen mit über 400 Klassen waren bisher dabei, aus allen Berliner Bezirken. Erst seit Januar 2010 erhält das Projekt eine gesicherte Finanzierung aus dem Fonds kulturelle Bildung. Nur wer Träger dieses Angebots ist, steht immer wieder zur Verhandlung an.

Die Förderung von 165.000 Euro im Jahr deckt längst nicht alle Honorare für die unterrichtenden Künstler, aber die Struktur, auch gerade der begleitenden Weiterbildung. Je nach Situation und Möglichkeiten der Schule wird die Tanzstunde von TanzZeit finanziert, oder es werden Beträge von Eltern oder Förderern eingeworben. Gerade in diesem Reagieren auf den konkreten Fall und im Ausarbeiten von flexiblen Modulen hat TanzZeit auch Modellfunktion für eine Veränderung von Schulen.

Diese Arbeit an der Struktur sieht man zwar nicht offensichtlich an den Werkstattabenden, aber doch eine besondere Form von Offenheit. Keine Klasse tanzt hier etwas nach oder spult tradierte Muster ab. Die kurzen Choreografien sind immer auf die Gruppen und ihre Individuen zugeschnitten: Jeder bekommt seine Rolle, aber auch das Zusehen und das Reagieren auf andere ist fast immer Teil des Auftritts. Keine Talentshow – ein echtes Gruppenerlebnis

■ Aufführungen der TanzZeit-Klassen sind noch am Samstag und Sonntag jeweils um 12 Uhr im Radialsystem zu sehen. Weitere Infos: www.tanzzeit-schule.de