piwik no script img

Archiv-Artikel

Für lebende und tote Landsleute

AUS NEW YORK SEBASTIAN MOLL

Manolo Ortiz weiß nicht weiter. Deshalb ist er heute in Orlando Tobons Büro gekommen, den zwei mal vier Meter großen Raum an der Roosevelt Avenue, der Hauptstraße des New Yorker Einwandererviertels Queens. Orlando, ein mächtig dicker Kolumbianer mit freundlichen Augen und sanfter Stimme, betreibt hier offiziell ein Reisebüro. Eigentlich jedoch ist der Laden eine wichtige Anlaufstelle in New York für Männer wie Manolo. Leute, die ohne Papiere aus Lateinamerika gekommen sind, um hier ihr Glück zu machen, die nicht englisch sprechen, die nichts haben und alles brauchen: Dokumente, eine Wohnung, einen Job.

Manolo ist schon der vierte Kunde, dabei hat Orlando erst vor einer halben Stunde aufgeschlossen. Etwa 170 Leute erwartet Orlando heute wie an jedem Tag, 170 von 600.000 illegalen Einwanderern in Queens; 170 von 11 Millionen illegalen Einwanderern in den USA, über deren Schicksal die Politiker in Washington seit Monaten streiten.

Manolo, der 35-jährige hagere Mann, ist schon seit drei Jahren in den USA, er hat noch immer keine Papiere. Nächste Woche soll ein Gericht über seine Ausweisung entscheiden. Der Anwalt, der sich ursprünglich seiner Sache angenommen hatte, hat sich als Betrüger herausgestellt – er nahm Manolos Geld und verschwand damit. Einen neuen Anwalt kann sich Manolo, der in einer Bäckerei arbeitet, nicht leisten.

„Die bringen mich dort um“

Nach Kolumbien kann Manolo aber nicht zurück – obwohl er in Bogotá einen guten Job bei einem Chemieunternehmen hatte. „Die bringen mich dort um“, sagt er mit erstaunlich ruhiger Stimme für jemanden in einer derart verzweifelten Lage. Manolo „schuldet“ einem Drogenkartell in Kolumbien Geld. Er hatte für einen entführten Freund das Lösegeld bezahlt, doch die Forderungen der Kidnapper nahmen kein Ende. Schließlich floh er über die Grenze in die USA.

Orlando ruft ein paar Leute an, wenige Minuten später hat Manolo einen Anwalt. Jemanden, der wie Orlando Immigranten hilft, jemanden, dem Manolo vertrauen kann. „Wenn er jetzt ausgewiesen wird“, erklärt Orlando, „lassen sie ihn nie wieder ins Land. Auch nicht, wenn irgendwann eine Amnestie für Illegale durchkommt.“ Manolo drückt Orlando 20 Dollar in die Hand, schüttelt seinem Retter überschwänglich die Hand und tritt sichtlich erleichtert hinaus auf die Roosevelt Avenue, über die sich die auf rostige Stahlstelzen aufgebockte U-Bahn-Schienen spannen. Wenn er nicht ausgewiesen wird und wenn sich der Kongress hoffentlich bald für das mildere Gesetz entscheidet, das den elf Millionen Illegalen in den USA den Weg zur Einbürgerung ebnet, hat er gute Chancen, Amerikaner zu werden.

Vor Orlandos Schreibtisch sitzt schon der nächste Kunde. An den Wänden des Büros hängen Urkunden, Dankesbriefe und Fotos: Orlando mit Bill und Hillary Clinton, Orlando mit dem kolumbianischen Botschafter, Orlando mit New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg. Ein Artikel aus der spanischsprachigen Einwandererzeitung Hoy beschreibt Orlando als „Engel der Einwanderer“. Seine Arbeit, für die er „manchmal ein paar Dollar, manchmal nichts“ nimmt, hat ihn berühmt gemacht – Migrationsbefürworter wie Bloomberg oder die Clintons zeigen sich gern mit ihm; lokale Arbeitgeber, denen er einen steten Zustrom billiger Kräfte sichert, stehen in seiner Schuld.

Gewiss tragen auch sie dazu bei, dass Orlando seine Kosten deckt. Aber darüber redet er nicht gerne. Man glaubt dem Mann auch so, dass er seine Starthilfearbeit neben seinem offiziellen Geschäft als Reiseagent und Steuerberater vorwiegend aus Menschenfreundlichkeit betreibt. „Es gibt in New York niemanden sonst wie ihn, er ist ein Heiliger“, bescheinigt ihm Maria, eine kolumbianische Krankenschwester und Freundin Orlandos, die auf einen Cafe con Leche vorbeigekommen ist.

Angefangen zu helfen hat Orlando vor 30 Jahren. „Ich war damals Steuerberater. Eine Frau kam zu mir, deren Schwester bei einem Autounfall gestorben war“, erzählt Orlando, während er gleichzeitig die Steuererklärung einer Kundin ausfüllt. „Sie wollte die Tote nach Kolumbien überführen, damit sie in der Heimat beerdigt wird.“ Orlando, der durch sein Steuergeschäft in Queens gute Verbindungen hatte, sammelte 300 Dollar Spenden und erfüllte ihr den Wunsch.

Für lebende und tote Landsleute

Mittlerweile hat er mehr als 1.000 Leichen in die Heimat verschifft. Viele waren Drogenkuriere – junge Kolumbianer, die in ihren Mägen Heroin schmuggelten. Aus purer Not. Fast jeder Zweite von ihnen stirbt dabei, die Drogenpäckchen gehen kaputt, die „Mulis“, wie sie genannt werden, sterben an einer Überdosis. Die Dealer holen sich die Ware trotzdem, auch von den Leichen.

Orlando kümmert sich um alle „Mulis“ – um die toten und die lebenden. Die einen bringt er zurück nach Kolumbien, den anderen hilft er, in den USA ein neues Leben anzufangen. Diese Arbeit respektieren sogar die Kartelle: „Die lassen mich in Ruhe“, sagt Orlando. „Ich habe noch keine Probleme gehabt.“

Seine Hilfsbereitschaft erklärt sich auch aus seiner eigenen Geschichte. Orlando weiß, was einer wie Manolo durchmacht. Als er 1968 aus Kolumbien nach New York kam, war er genau wie er ein bettelarmer Einwanderer, der kein Wort Englisch sprach und keine Papiere hatte. „Ich habe Teller gewaschen und gekellnert, jahrelang.“ Mit unerschütterlichem Glauben an den amerikanischen Traum, daran, dass man es hier mit harter Arbeit zu etwas bringen kann, hat er die Sprache gepaukt und sich das Geld für ein Abendstudium zusammengespart. Nach sieben Jahren in New York hielt Orlando stolz seine Lizenz als Steuerberater in der Hand.

Allerdings, räumt Orlando ein, sei es damals für Einwanderer auch noch einfacher gewesen als heute. Das politische Klima im Land war liberal, die Erinnerung an Kennedy frisch und Präsidenten wie Reagan oder die Bushs noch in ferner Zukunft. „Ich habe sofort ein Visum bekommen.“ Amerika verstand sich noch als Einwanderungsland; neokonservative Furcht vor einer integrationsunwilligen hispanischen Parallelgesellschaft wurde nicht öffentlich thematisiert.

Heute ist das anders, und deshalb ist Orlando neulich mit auf die Straße gegangen. Hunderttausende Immigranten der verschiedensten Nationalitäten haben im Frühjahr gegen die Gesetzesvorlage des konservativ geführten Repräsentantenhauses protestiert, die illegale Einwanderer kriminalisieren soll. In seinem Büro hängen noch die Pappschilder von der Kundgebung mit der Aufschrift „Legalisierung für alle Immigranten!“ Orlando ist optimistisch, dass die Vorlage nicht Gesetz wird: „Die Amnestie wird kommen“, sagt er gelassen.

Er hat schon viele Reformen des Einwanderungsrechts miterlebt. Und egal, was in Washington ausgekocht wurde – der Einwandererstrom riss nie ab. Anders kann es sich Orlando auch gar nicht vorstellen: „Unser Viertel besteht fast zur Hälfte aus Illegalen“, sagt er, „die können sie gar nicht alle verhaften.“ Und im Grunde, das weiß Orlando, will das auch niemand: „Neunzig Prozent der Illegalen finden hier sofort einen Job. Die Firmen rufen jeden Tag bei mir an, weil sie die Leute brauchen.“

Gesetzt den Fall jedoch, die Konservativen kämen mit ihrem Gesetzentwurf tatsächlich durch, wäre auch Orlando ein Krimineller. Das Gesetz würde auch die Helfer der illegalen Einwanderer bestrafen. Dabei ist Orlando ein mustergültiger Amerikaner: Er hat die Sprache gelernt, er hat studiert, er arbeitet hart, er leistet seinen Beitrag zu Wirtschaft und Gesellschaft. Doch dabei verliert er weder seine Landsleute noch seine Heimat aus dem Blick. Mit einer eigenen Stiftung hilft er Kindern in Kolumbien, er beschafft ihnen Schulbücher, Kleidung, ärztliche Versorgung.

Amerikaner aus Neigung

Die Möglichkeit, ein guter Amerikaner zu sein und ein guter Kolumbianer zu bleiben, ist eines der Dinge, die den französischen Philosophen Bernhard-Henri Levy in seinem Amerika-Buch „American Vertigo“ an den Vereinigten Staaten begeistert hat. Er nennt es das amerikanische Integrationsmodell – denn es zwingt, im Gegensatz beispielsweise zum französischen Zuwanderungsrecht, dem Neuankömmling keine exklusive Identität auf.

Auf der Roosevelt Avenue hat man indes das deutliche Gefühl, in Amerika zu sein. Auch wenn das Schild über dem Damenunterwäsche-Geschäft links neben Orlandos Laden für „Ropa Intima“ wirbt und wenn der Videoverleih rechts nur spanischsprachige Filme im Sortiment hat. Auch wenn die Speisekarte im Restaurant La Pequena Colombia gegenüber „Comidas Latinas“ anpreist und wenn daneben der Abogado Abel Arcia bei „Accidentes“ weiterhilft. Denn schließlich tragen drei U-Bahn-Stationen weiter dieselben Schilder kantonesische Schriftzeichen und statt kolumbianischer Ochsenschwanzsuppe gibt es Hühnerhalssuppe. Und am Ufer des East River, wo sich die Neuankömmlinge vor siebzig Jahren angesiedelt haben, werden im Biergarten böhmisches Starkbier und Schweinsbraten mit Knödeln serviert.