: Die Silvesterunruhen
Die Wahrheit-Wochen der kleinen Verbrechen. Heute: Von „Straßenjungs“ gefeuert
Eigentlich hätte ich meinen Zivildienst in einer Hochwaldklinik irgendwo zwischen Marburg und Kassel antreten müssen. Da ich aber an meinem Wohn- und Studienort Göttingen bleiben wollte, fuhr ich sofort nach Erhalt des Einberufungsbescheids zum Bundeszivildienstamt nach Köln, fragte und kämpfte mich unangemeldet zu meinem Sachbearbeiter für den Buchstaben U durch und fand einen derart gewogenen und sprachlosen Mann vor, der durch meine bloße Anwesenheit in Tränen ausbrach. Ich sei, so sagte er, der allererste Fall in seiner ganzen Dienstzeit, der sich um seinen Zivildienstplatz durch persönliches Vorsprechen kümmere. Ich meine sogar, er hätte gesagt: „In diesem Haus sind Sie der allererste Zivi überhaupt!“
Jedenfalls hatte ich so was wie einen Joker gezogen, der Beamte gab mir einen Anmeldebogen mit Unterschrift und Freistempel mit, der mich befugte, mir meine eigene Zivildienststelle zurechtzubasteln. Da traf es sich, dass die Evangelische Studentengemeinde in Göttingen gerade einen Zivi brauchte, der sich auch um die Verwaltung der einliegenden Studentenbuden kümmerte. Mein Chef war Peter Ohnesorg – ja, der zweite Ohnesorg, der Bruder.
Das war im Jahre 1981, Ende Juli. Zum ersten Mal seit langem konnte die Sekretärin Urlaub nehmen, weil ich sie vertrat. Auch das Hausmeisterehepaar war sofort ausgebüxt bei meinem Dienstantritt. An jenem heißen Julimittwoch startete die neugegründete einteilige Zweite Bundesliga gerade in die neue Saison. Hannover 96 musste zu meinem Verein, zu Hessen Kassel. Ich saß schon abmarschbereit die letzten Dienstminuten ab, bevor es losgehen sollte.
Da kam ein junger Kerl in meinem Alter herein, den ich als Verkäufer des Roten Buchladens erkannte, und wollte für einen Sonntag im September ein Kinderfest im Hause anmelden; und weil von Podiumsdiskussionen mit Gollwitzer und Albertz bis hin zu Musikveranstaltungen und kirchlichem Mummenschanz so ziemlich alles im Hause stattfand, sagte ich selbstverständlich sofort zu. Schließlich hatte ich Prokura und brauchte nur die Zeiten noch ins Hausbuch einzutragen. Dabei fiel mir zwar einen Moment lang die merkwürdige Dauer des Kinderfestes auf, nämlich von 14 bis zwei Uhr nachts, aber wer hätte da im Anschluss noch Interesse an den Räumlichkeiten haben sollen? Ich sagte also zu, kassierte die 40 Mark Miete inklusive Reinigungsgebühr, vergaß die Sache, fuhr nach Kassel, wo wir eins zu null gewannen.
Wochen später kam ich an einem Montagmorgen zum Frühstück in der Küche. Meine beiden WG-Genossen Friedhelm und Graf Matuschka redeten über ein Konzert der „Straßenjungs“. Es sei das Härteste gewesen, was Göttingen die letzten Jahre über erlebt hätte – und das in Jahren, in denen unsere Göttinger Silvesterunruhen schon bundesweite Aufmerksamkeit errungen hatten, ja am Neujahrsmorgen regelmäßig den Aufmacher der Frühnachrichten gaben. Kein Bordstein sei mehr auf dem anderen geblieben, die Toiletten wären fast alle herausgerissen, Feuerwehr und Polizei hätten kommen und alles räumen müssen. Und dann dreht sich Friedhelm mit seinem pfiffig-lauernden Blick zu mir herüber und fragt: „Reinhard, hast am Ende du die da alle reingelassen?“ … Bingo!
Es war mein „Kinderfest“! Ich erinnerte mich wieder an den unscheinbaren Sonntagabendtermin, den ich vergeben hatte. Ich war es gewesen, der den „Straßenjungs“ zu einer praktisch kostenlosen Konzerthalle verholfen hatte! Ich war es gewesen, der dem neben dem Gebäude wohnenden Hausherrn, dem Landessuperintendenten und späteren Landesbischof Horst Hirschler die Nachtruhe geraubt hatte, so dass dieser irgendwann entnervt den Staatsschutz alarmierte und die Räumung des Gebäudes veranlasste!
Stattgefunden hatte ein geschickt platziertes Rockkonzert zum Nulltarif. Die Schäden gingen in die Tausende, und wohl schon in der Nacht stand des Hausherrn Entschluss fest, den für die Ausschreitungen Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Telefonisch erhielt ich Nachricht von meiner Degradierung und unehrenhaften Entlassung aus dem Heer der Zivildienstleistenden. Mir wurden die Epauletten vom Rock gerissen, und dabei ging mir der Titeltrailer der Fernsehserie „Branded“ mit Chuck Connors durch den Kopf: „Geächtet ist er für alle Zeit! Es kämpft ein Mann für Gerechtigkeit!“
Immerhin wurde ich nach kurzer Auszeit durch die Fürsprache innerkirchlicher Bewährungshelfer zum Evangelischen Stadtjugenddienst versetzt. Dort bekam ich Kontakt zu christlicher Erbauungsliteratur. So bog mein Leben zumindest kurzzeitig auf die sittliche Normalspur ein. REINHARD UMBACH