: „Katalonien leidet an Realitätsverlust“
Die Linke, die eigentlich für universelle Werte, wie Solidarität und Gleichbehandlung stehen müsste, überholt in Katalonien die nationalistische Rechte, meint Regisseur Albert Boadella. Daher kämpft er gegen das Autonomiestatut
taz: Sie verkleiden sich als Psychiater, wenn sie öffentlich gegen das Autonomiestatut protestieren, über das die Katalanen am Sonntag abstimmen. Das bringt Ihnen den Ruf ein, Sie selbst bräuchten dringend selbst ärztliche Hilfe. Stimmt das?
Albert Boadella: Meine These ist recht einfach: Länder oder menschliche Gemeinschaften erkranken ebenso wie eine Person. Es gibt echte kollektive Krankheiten, von denen ganze Völker heimgesucht werden. So leidet Katalonien an Paranoia und Realitätsverlust. Die Katalanen glauben, dass ein Madrilene, wenn er morgens aufsteht, nichts Besseres zu tun hat, als sich etwas auszudenken, um Katalonien zu schaden. Deshalb ist Spanien der Feind, zu dem wir auf Distanz gehen müssen. Dieser Realitätsverlust ist unter der katalanischen Bevölkerung sehr weit verbreitet.
Eigentlich sah doch alles danach aus, als wäre der schlimmste Nationalismus überwunden. Schließlich kam bei den letzten Wahlen erstmals die Linke an die Macht.
Das ist ja genau das Paradoxe. Anstatt sich wie ich, den weißen Arztkittel anzuziehen, hat die Linkskoalition das nationalistische Delirium noch weiter voran getrieben. Die Linke, die eigentlich für universelle Werte wie Solidarität und Gleichbehandlung stehen müsste, überholt in Katalonien die nationalistische Rechte bei weitem.
Mehr Autonomie heißt doch eigentlich mehr Selbstregierung. Die Machtzentralen rücken näher an das Volk heran. Ist das kein Fortschritt?
Nicht immer. Manchmal tritt genau der gegenteilige Effekt ein. Vor dreißig Jahren gab es in Katalonien wenig Verwaltung. Es gab nur die Behörden des Zentralstaats. Wenige Bürger waren von der Macht abhängig. Heute leben einen Million der sieben Millionen Katalanen direkt oder indirekt von den Autonomiebehörden. Das hat unseres Landes völlig verändert. Die Bürger protestieren immer weniger gegen die Regierung, denn irgendwie sind sie alle von den politischen Strukturen abhängig.
Was ist das entscheidende Problem des neuen Statuts?
Eindeutig die Frage der Sprache. Künftig werden wir ein Sprachproblem haben, das es bisher nicht gab. Katalonien ist zweisprachig, alle benutzen das Katalanische und das Kastilische. Jetzt stellt das neue Statut die katalanische Sprache über die kastilische. Das geht so weit, dass Unternehmen bestraft werden, die nicht alles auf Katalanisch auszeichnen, oder Restaurants, die nur eine Speisekarte auf Kastilisch haben. Unter dem Vorwand, das Katalanische zu schützen, soll das Kastilische aus Katalonien verdrängt werden. Das neue Statut versucht mit allen Mitteln den Abstand zu Spanien noch zu vergrößern. Das Ziel ist es, uns nach und nach von den anderen Spaniern zu entfernen.
Warum nicht? Montenegro ist viel kleiner und hat auch seine Unabhängigkeit erreicht.
Für mich wäre das ein Rückfall in die Vergangenheit. Vor 500 Jahren war das so. Alle Spanier haben eine riesige Anstrengung für die Vereinigung unternommen wie in anderen europäischen Ländern auch. Von heute aus gesehen hat diese Vereinigung dazu geführt, dass die interregionale Solidarität zugenommen hat, dass nicht die Regionen Rechte haben, sondern jeder einzelne Bürger.
Sind Sie nun also zu den „españolistas“ übergelaufen?
Die Frage an sich ist schon falsch. Wir müssen in Katalonien erreichen, dass das Wort „españolista“ den gleichen Ruf genießt wie das Wort „catalanista“. Die Tatsache, dass wir ein Spanien verteidigen, in dem alle Spanier zusammenleben, wie es die Verfassung von 1978 vorsieht, darf doch kein Grund dafür sein, sich hier nicht wohl zu fühlen oder nicht als Katalane zu begreifen. Es kann nicht sein, dass ein großer Teil der politischen Klasse mit Hilfe der Presse und dem Bildungssystem den Hass gegen Spanien schürt.
Welches Mittel verschreiben Sie also Ihren Patienten?
Wie schon der berühmte spanische Schriftsteller Unamuno gesagt hat: „Der Nationalismus wird durch Reisen geheilt.“ Das heißt, der Realitätsverlust kann durch das Kennenlernen der tatsächlichen Situation geheilt werden, indem wir eine engere und natürlichere Beziehung zum gesamten Spanien haben. Deshalb brauchen wir eine Politik, die nicht mit Gefühlen spielt, sondern pragmatisch ist. Das spirituelle, metaphysische Glück ist schließlich Sache jedes Einzelnen. In Katalonien wird aber mit Gefühlen Politik gemacht, weil dies viel bequemer und einfacher ist. Die Nationalisten sind nie verantwortlich für das, was geschieht. Die Schuld liegt immer beim Nachbar, in unserem Falle in Madrid. Dieser Mechanismus funktioniert nicht nur in Katalonien. Auch in Ihrem Land, in Deutschland, war das ja so. Stattdessen sollte die Politik sich lieber um ein gewisses materielles Glück der Bürger kümmern.
INTERVIEW: REINER WANDLER