: Merkel muss kein Wunder vollbringen
Beim EU-Gipfel in Brüssel einigen sich die 25 Mitgliedstaaten darauf, erst in einem Jahr unter der deutschen Ratspräsidentschaft den Verfassungsprozess wiederaufzunehmen. Einigung über Hilfsgelder für Palästinenser
BRÜSSEL taz ■ Die Phase des Nachdenkens über die Verfassung hätte beim EU-Gipfel gestern eigentlich zu Ende gehen sollen. Doch die Staats- und Regierungschefs der 25 Mitgliedsstaaten einigten sich darauf, den Prozess um ein weiteres Jahr zu verlängern. Von der deutschen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 werden keine Wunder mehr erwartet – Höhepunkt wird wohl die Feier in Berlin anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Römischen Verträge im erweiterten Kreis der dann voraussichtlich 27 Mitgliedstaaten. Die Gipfelteilnehmer sind nämlich überzeugt, dass Bulgarien und Rumänien „die festgestellten Defizite beseitigen und somit wie geplant am 1. Januar 2007 beitreten können.“
Damit würde die Zahl der Länder, die den Verfassungsvertrag ratifiziert haben, auf 18 steigen, denn das finnische Parlament will in den kommenden Wochen zustimmen, Bulgarien und Rumänien haben ihre Zustimmung bereits im Rahmen der Beitrittsverträge erklärt. Diese Entwicklung wird vom Rat ausdrücklich begrüßt. Kein Wort findet sich aber in den Schlussfolgerungen dazu, wie das Dilemma gelöst werden soll, dass sich in der Union zunehmend zwei Gruppen von Staaten gegenüberstehen: diejenigen, die der ursprünglichen Version der Verfassung zugestimmt haben, und diejenigen – allen voran Frankreich und die Niederlande –, die eine veränderte Fassung brauchen, weil sie den Wählern nicht zweimal denselben Text zur Abstimmung vorlegen können.
Mehrere Regierungschefs sprachen das Problem am Rande des Gipfels in deutlichen Worten an. „Es ist jetzt die Sache von Frankreich und den Niederlanden, die nötigen Klarstellungen zu geben. Wir warten auf ihre Antworten“, sagte der dänische Regierungschef Rasmussen vor Beginn des Gipfels. Doch diese Antworten blieben aus. Nach Aussagen von Teilnehmern der Tischrunde wurden nicht einmal die Fragen hinter verschlossenen Türen wiederholt.
Andere heikle Themen blieben ebenfalls ausgespart. So verzichtete EU-Parlamentspräsident Josep Borrell darauf, den Straßburger Parlamentssitz zu erwähnen. Ratspräsident Wolfgang Schüssel hatte ihn schriftlich aufgefordert, die Passage aus seinem Redemanuskript zu streichen: „Beratungen mit den Mitgliedsstaaten – vor allem mit Frankreich, dem Gastland des Straßburger Parlamentssitzes – haben deutlich gemacht, dass der Rat dieses Thema nicht debattieren sollte“, schrieb Schüssel. Mehrere Abgeordnete hatten im Internet innerhalb eines Monats unter der Adresse oneseat.eu mehr als 500.000 Unterschriften dafür gesammelt, den zweiten Sitz des Parlaments in Straßburg abzuschaffen und den kostspieligen monatlichen Umzugszirkus zu beenden.
Für den seit Wochen umstrittenen „Finanzierungsmechanismus“ für die palästinensischen Gebiete fanden die Regierungschefs eine Lösung, wie Grundbedürfnisse der Menschen befriedigt werden können, ohne mit den von der Hamas kontrollierten Behörden zusammenzuarbeiten. Der „Mechanismus“ besteht aus drei „Fenstern“, über die unterschiedliche Hilfen kanalisiert werden sollen. Über das erste Fenster werden direkte Zuschüsse an medizinische Einrichtungen gezahlt, um Medikamente anzukaufen und medizinisches Personal zu bezahlen. Bei der Umsetzung dieses Programms will die EU eng mit der Weltbank zusammenarbeiten. Über das zweite „Fenster“ sollen Rechnungen bezahlt werden, um die kontinuierliche Versorgung mit Öl, Strom und Wasser sicherzustellen. Über das dritte „Fenster“ sollen besonders bedürftige Personen unterstützt werden.
Beim Thema Erweiterung wurde um eine Formulierung gerungen, die der steigenden Erweiterungsmüdigkeit in der Bevölkerung Rechnung tragen sollte, ohne Hoffnungen auf eine Beitrittsperspektive bei den Balkanländern, der Türkei oder der Ukraine endgültig zunichte zu machen. Um die Debatte auf eine objektivere Grundlage zu stellen, wird die EU-Kommission gebeten, im Herbst zeitgleich mit den Fortschrittsberichten der Kandidatenländer „einen Sonderbericht über alle einschlägigen Aspekte im Zusammenhang mit dem Kriterium der Aufnahmefähigkeit der Union vorzulegen“. Es gebe hier Klärungsbedarf, sagte Schüssel. Schließlich enthalte schon das deutsche Wort „Aufnahmefähigkeit“ eine andere Nuance als das englische „absorption capacity“.
Gegen britischen Widerstand einigte sich der Gipfel darauf, seine Beratungen bei Gesetzen, die vom Parlament mit entschieden werden, künftig öffentlich abzuhalten. „Wir probieren es einfach aus, dass wir das Haus Europa durchlüften“, sagte Schüssel. In sechs Monaten solle überprüft werden, ob sich das Verfahren bewährt habe. Wer sich davon viel frischen Wind verspricht, wird wohl enttäuscht werden. Insider befürchten, dass sich wichtige Verhandlungen noch mehr als bisher in geheime Zirkel verlagern werden. DANIELA WEINGÄRTNER
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