: Was das Herz nachts tun muss
GROSSES SOLO Mit „Der perfekte Tag“ kommt René Polleschs Mülheimer Ruhrtrilogie zum Abschluss. Hinreißend ist die Performance des Schauspielers Fabian Hinrichs
VON REGINE MÜLLER
Im Privatfernsehen gab es bis vor kurzem ein Reisemagazin mit dem Sehnsuchtstitel: „Wolkenlos.“ Den dramaturgischen Höhepunkt jeder Folge bildete am jeweiligen Traumziel die Inszenierung der touristischen Konsum- und Erlebnismaximierung unter dem finalen Programmpunkt: „Der perfekte Tag.“
Diesen Titel hat René Pollesch für den dritten und letzten Teil seiner Ruhrtrilogie gewählt. Gleich zu Beginn verspricht der Schauspieler Fabian Hinrichs beschwörend den perfekten Tag, kündigt an, dass vor Ort Hawaii entstehen, dass man „Hamlet“ erleben und ein Pferd verschwinden werde. Doch dann fängt er erst einmal an, die 100 wichtigsten Erfindungen der Menschheit seit dem Faustkeil aufzuzählen und gestenreich zu illustrieren. Bei Erfindung Nr. 101, dem perfekten Tag, endet er erschöpft. Allerdings sieht Polleschs/Hinrichs perfekter Tag weitaus bescheidener aus als im Hochglanz-Reisemagazin: „Frühstück machen, noch mal zurück ins Bett – kuscheln, Einkaufengehen, Kaffeetrinkengehen, Kuchenessengehen …“ Doch selbst die prekäre Ruhrpottversion bleibt Illusion. „Aber das ist eine Erfindung“, resümiert Hinrichs im Predigerton.
Mülheim an der Ruhr ist für René Pollesch ein Heimspiel: Hier hat er schon zweimal den Publikumspreis der Stücketage gewonnen und sich einen treuen, strapazierfähigen Fankreis erarbeitet. Wie belastbar, das stellte sich nun erneut unter Beweis. Denn der Spielort ist eine öde Industriebrache unter freiem Himmel. Vom Eingang des Mülheimer Ringlokschuppens geht man durch unwegsames Niemandsland vorbei an Lager- und Gewerbehallen, Ruinen und Rohbauten; erst nach zehn Minuten Fußmarsch kommt man an.
Polleschs Bühnenbildner Bert Neumann hat ähnlich wie im letzten Jahr bei „Cinecittà aperta“ auf dem zugigen Gelände eine Wagenburg aufgebaut, eine rollende Roadshow, in deren Mitte die üblichen weißen, wackeligen Plastikstühle für das Publikum stehen. Wie um der beschworenen Perfektion Hohn zu sprechen, sieht alles reichlich unfertig aus. Der Abend beginnt mit knapp 40-minütiger Verspätung. Doch trotz des eisigen Windes, der über die Brache fegt, murrt niemand, man wickelt sich in die vorab verteilten Decken, es wird Wodka gereicht.
Dann endlich kommt Fabian Hinrichs im blau gestreiften Bademantel holpernd angeradelt und beginnt mit seiner beinahe abendfüllenden One-Man-Show. Nachdem Pollesch in den ersten beiden Teilen der Ruhrtrilogie mit einem größeren Ensemble gearbeitet hat, beschränkt er sich nun auf zwei Darsteller: Fabian Hinrichs und Volker Spengler. Den Löwenanteil des Abends bestreitet Hinrichs; er monologisiert in seltsam gehobenem Singsang, predigend, dozierend, ermahnend, doch stets ironisch gebrochen. Hinrichs zieht dabei alle Register, wechselt permanent den Ton, spielt den Schmierendarsteller, den Marktschreier, den Besinnungskaplan, den Mahner, den Wahrsager, den Zauberer und flirtet dabei hemmungslos abwechselnd mit dem Publikum und der eigenen Künstlichkeit. Hinreißend.
Das sonst für Pollesch übliche rauschhafte Dialog-Stakkato, die Hysterie der gegenseitigen Unterbrechung, das einander überbietende furiose Zusammenspiel des Ensembles finden diesmal also nicht statt, sondern verdichten sich im großen Solo.
Die Schrumpfung der Besetzung erweist sich als konsequent. Denn Polleschs Textgirlanden arbeiten sich diesmal eher indirekt an der Kapitalismuskritik, der Unübersichtlichkeit der globalisierten Welt und der Klage über die totale Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse ab. Das neue Stück ist kein streitbarer Diskurs, keine mit theorielastigem Geschwurbel gefütterte Textriesenschlange. Im letzten Teil dieser Trilogie, die im Übrigen nur sehr am Rande mit dem Ruhrgebiet zu tun hat, stehen die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Geschlechterdifferenz im Zentrum. Der Frage nach dem Sinn oder Unsinn des Fortschritts, dokumentiert anhand der Litanei der Erfindungen, stehen die alten großen Fragen gegenüber, die scheinbar keinen Fortschritt kennen. Die Weisheiten des Zarah-Leander-Schlagers „Nur nicht aus Liebe weinen“ dienen Pollesch als willkommener Aufhänger, die Lügen der Sprache, des Lebens und der Liebe zu thematisieren und die Prinzipien der Täuschung und der Illusion schließlich auf das Theater selbst zu beziehen.
Die für Pollesch typischen Textschleifen und Wiederholungen sind in „Der perfekte Tag“ sparsamer gesetzt, der Text ist konzentrierter und karger als in den ersten beiden Teilen der Trilogie, das Tempo auf der Bühne dadurch merklich gebremst.
Im letzten Drittel des Abends zieht das Publikum mitsamt seinen Plastikstühlen unter eine Zeltplane um, vor der eine Videowand aufgebaut ist. Dort hat Volker Spengler, live aus einem der Wohnwagen übertragen, seinen fulminanten Gastauftritt. Zuletzt betätigt Hinrichs sich als dilettierender Zauberer, dem es partout nicht gelingt, seine Tricks zu verschleiern. Doch er serviert die eigene Enttarnung heiter lächelnd, flirtend. „Und dein Herz, was muss das tun nachts? Wofür schlägt es?“, das sind Hinrichs letzte Worte. Und damit endet der Abend dann doch in der Ambivalenz-Verwirrung eines typischen Pollesch-Abends. Nur konzentrierter.