FUSSBALL, DEMO, „NUR EIN BIER“ AUF DER REEPERBAHN – HAMBURG, DIESES LAS VEGAS DES NORDENS, WURDE NUR GEBAUT, UM UNSEREN AUTOR FERTIGZUMACHEN
: Wo die Gefühle Schweigepflicht haben, ist die Kotztüte nicht weit

VON JURI STERNBURG

Alles begann in Hamburg, meinem persönlichen Las Vegas. Theoretisch wollte ich hier über die Weihnachtsfeiertage schreiben, allerdings habe ich diese größtenteils in der Horizontalen oder am Esstisch verbracht, und der Grund dafür war diese grauenhafte Stadt, die nur gebaut wurde, um mich fertigzumachen. Nach jahrelanger Feindschaft, bedingt durch meine Affinität zu deutscher Rapmusik und dem damit verbundenen Krieg zwischen Berlin und der Perle im Norden, mied ich Hamburg meist. Erst in letzter Zeit überwand ich meine Vorurteile und verbringe seitdem gern das ein oder andere Wochenende in der Hansestadt. Dieses Mal gab es für meinen Besuch sogar logische Gründe. Erstens wollte ich erstmalig das Millerntor, die Spielstätte St. Paulis, besuchen, außerdem stand die Demonstration für die Rote Flora bzw. die Lampedusa-Flüchtlinge an, quasi zwei Fliegen mit einer Klappe, der dritte nahm das Flugzeug.

Es gab also keinen Grund, nicht zu fahren, abgesehen von der Tatsache, dass so ein Wochenende in Hamburg oft dazu führt, dass man erst am folgenden Mittwoch wieder laufen kann. Und bekanntlich stand Heiligabend an. Aber was soll’s, ausruhen kann man sich, wenn man tot ist, dachte ich und saß kurz darauf im Bus gen Norden.

St. Pauli verlor gegen Hertha BSCs Partnerverein Karlsruher SC, die Demonstration nahm ihren bekannten Verlauf, es gab also im Anschluss an das Katz-und Maus-Spiel mit dem leicht gereizten Team Green genug Gründe, ein wenig zu feiern. „Nur ein Bier“ lautete unser Motto des Abends. Also gingen wir auf die Reeperbahn, der ideale Ort, um nur noch mal ganz kurz einen Absacker zu trinken. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist eine verrauchte Spelunke, in der ich mit einer Gruppe minderjähriger Kiezgören „Die Gefühle haben Schweigepflicht“ von Andrea Berg schmetterte. Schnitt.

Dann ein Südafrikaner, der mir erklärt, er suche ganz dringend nach einer kleinwüchsigen Stripperin. „Wie sieht sie denn aus?“, frage ich und bestelle eine weitere Flasche Mexikaner. Schnitt. Ich steh an der Jukebox im „Lucky Star“ und hämmer auf die Tasten ein. „Das ist kein Spielautomat“, sagt ein zahnloser Rentner mit Astra in der Hand. „Da kommt nichts raus, wenn du schneller drückst.“ Als ich am nächsten Morgen aufwache, dröhnt mein Schädel, ich bin immer noch ganz zerstreut von meiner freiwilligen Diaspora. Das Sofa, auf dem ich liege, kommt mir nicht bekannt vor. Ein Blick in den Spiegel bestätigt alle Vermutungen: Ich sah morgens schon so Scheiße aus wie Vera am Mittag. Es gab nur eine Lösung für meine Misere: Ich musste diese Stadt schleunigst verlassen. Dafür gibt es in Hamburg eine ganz einfache Taktik, und diese besteht hauptsächlich darin, vor die Tür zu gehen. Denn mit dem Hamburger Kiez verhält es sich ein wenig wie mit Las Vegas. Nachts ein grandioser Spaß voller blinkender Lichter und lachender Menschen. Doch tagsüber zeigt die Reeperbahn ihr wahres Gesicht und lässt einen schnell das Weite suchen. All die anderen sehen aus, wie man sich selbst fühlt, ein grauenhafter Anblick. Also schnell zurück nach Berlin. Mein Busfahrer heißt Teddy und kommt aus Holland, und seine Fahrweise sorgt dafür, dass ich das ein oder andere Mal zur Kotztüte vor mir greife, der panische Blick meiner Sitznachbarin lässt mich jedoch davor zurückschrecken, die Tüte auch zu benutzen. Immanuel Kant sagte mal: „Ekel erzeugt Distanz“, aber wie soll das gehen in so einem engen Reisebus, sie muss wohl oder über die nächsten drei Stunden mit der Angst leben. In Berlin ziehe ich die Vorhänge zu, schwöre mir, nie wieder nach Hamburg zu fahren, und kann die kommenden Festmähler kaum erwarten. Ich war dann nur noch mal ganz kurz unterwegs nach der Bescherung. Auf ein Bier.