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Archiv-Artikel

Futter für den homo ludens

Ein Kunstwerk aus 60.000 gleichfarbig blauen Bällen. In Essen und Dortmund wurden sie bereits in den Fußgängerzonen unangekündigt ausgelegt. Die Menschen treffen zufällig auf die Skulptur

VON REGINE MÜLLER

Was passiert, wenn Menschen in einer alltäglichen öffentlichen Situation mit etwas gänzlich Unerwartetem konfrontiert werden? Wenn Samstagmorgens um zehn in der Fußgängerzone plötzlich ein Meer von 10.000 himmelblauen Bällen liegt?

Die Passanten sind zuerst vorsichtig, misstrauisch. Man schaut sich um, aber da ist kein Infostand, kein verstecktes Fernsehteam, kein Animateur, kein Pädagoge, kein Handzettel, nichts. Die Bälle liegen einfach kommentarlos da. Die Vorsicht weicht dem Lächeln. Die Kinder fangen an. Springen rein in die Bälle, jauchzen, krabbeln. Dann die ersten Herren: fangen an zu kicken, dribbeln, werfen. Das ist ansteckend, auch coole Teens schieben nun lässig die blau, so blauen Bälle hin und her. Der Funke springt schnell über, bald haben alle irgendwas zu tun mit den Bällen. Samstags-Papis führen Kunststücke vor, Mamis und Tanten unterbrechen die Großeinkäufe, Kinderwagen kommen zum Einsatz, sogar Krücken haschen nach den Bällen. Im Nu sind Shopping-Hektik und Konsum-Imperativ außer Kraft gesetzt, für kurze Zeit kann man das Glück völlig zweckfreien Spiels beobachten. Eine brasilianische Truppe taucht auf, nun wird gezaubert, wildfremde Menschen spielen sich Bälle zu. Homo ludens – der spielende Mensch. Dann formieren sich Gruppen, es wird organisiert. Kinder schleppen Tüten an, stopfen Bälle hinein, erst zaghaft, dann triumphierend. So ein Glück, wie beim Karneval die Kamellen, alles umsonst! Omis zerren schnell aus zierlichen Handtäschlein in erstaunlich großer Zahl die gefürchteten Stoffbeutel und lassen Bälle verschwinden. Für die Enkel, natürlich. Homo oeconomicus – der Mensch sucht eben immer auch seinen persönlichen Nutzen.

Das alles passierte bereits in den Einkaufsmeilen von Essen und Dortmund. Am Ende geht alles ganz schnell. Immer noch gibt es Spieler, aber die Sammler werden mehr. Das Phänomen verläuft in Wellen. Am frühen Mittag ist der Spuk vorbei, kein Ball mehr da. Dann ist ein Teil von Wolfgang Hanfsteins dynamischer Skulptur restlos aufgelöst und verschwendet worden. „Entropie“ nennt er das Kunstwerk nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, der das Streben von geordneten Strukturen zum Chaos hin beschreibt, und den Woody Allen so lakonisch verknappte: „Früher oder später wird alles zu Scheiße“. In den Fußgängerzonen geht‘s dennoch um Kunst.

Insgesamt 60.000 mit Entropie bedruckte Bälle hat Hanfstein organisiert. 20.000 sind nun futsch. Den Rest will er an weiteren vier Tagen als sanfte Provokation kommentarlos und ohne Regeln unter die Menschen des Ruhrgebiets bringen.

Hanfstein, der zuletzt im Düsseldorfer Schauspielhaus für Kommunikation zuständig war, will mit diesem gigantischen Projekt spielerische Verschwendung mit dem Prinzip der allgegenwärtigen Ökonomie konfrontieren, will zum Spiel einladen und verblüffen. Die Dynamik der „Skulptur“, will sagen, der Prozess ihrer Auflösung ist ganz der Energie der Menschen überlassen, die sie „bespielen“. Es gibt kein Eingreifen seitens der Verursacher, keine Eröffnung, keine Regeln und Verbote. Das freie Spiel der Kräfte wird zugleich zum sozialen Experiment.

Kein Zufall ist es sicher auch, dass Hanfstein ausgerechnet in der Zeit der totalen kommerziellen Mobilmachung des Phänomens „Ball“, blaue Bälle in Ballungsräumen zum Spiel anbietet, wo sonst höchstens Großleinwände das Zaungast-Lebensgefühl verstärken.

Vier Aktionen stehen also noch bevor, doch die Orte bleiben geheim, denn das subtile Spiel ist auf den Faktor Überraschung existentiell angewiesen. Lediglich die Uhrzeit bleibt gleich und die Tatsache, dass aus Gründen der soziologischen Mischung kein Wochentag infrage kommt.

www.hanfstein.com