: Baden auf eigene Gefahr
Offiziell erhalten die deutschen Badestellen Traumnoten – doch die Statistik täuscht. Viele Gewässer werden überhaupt nicht mehr bewertet
von VOLKER HOLLMICHEL
Schöner schwimmen in Deutschland: Ob Meeresstrand oder Badesee – die hiesigen Gewässer erhalten Traumnoten. 1.942 offizielle Badestellen hat die EU-Kommission in Deutschland untersuchen lassen: 99 Prozent aller Meeresstrände und 94 Prozent der Seen und Flüsse verheißen ungetrübten Badespaß. Reiseprospekte scheinen wahr zu werden. Doch könnte es sich um eine statistische Täuschung handeln: Wie die Europäische Kommission erbittert feststellte, hat Deutschland seit 1990 genau 1.437 seiner Badestellen aus der Statistik gestrichen. Das sind glatte 42 Prozent. Seither gibt es keinerlei Angaben mehr, wie schmutzig oder sauber diese Gewässer sind. Baden auf eigene Gefahr.
Im Bundesumweltministerium hält man „die Zahlen aus Brüssel für stark übertrieben“. Momentan läuft eine Umfrage in den einzelnen Bundesländern, die allerdings noch nicht abgeschlossen ist. „Die Bundesländer waren früher gar nicht verpflichtet zu begründen, warum sie ihre Strände von der Bäderliste streichen“, sagt Thomas Hagbeck, Pressesprecher des Ministeriums. „Diese Pflicht wurde erst mit der neuen Richtlinie eingeführt.“
Vor Ort ist man sich ebenfalls keiner Schuld bewusst. Beispiel Berlin: Dort hat man in den letzten Jahre 40 Badestellen aus den Listen gestrichen. „Bis 2004 war bei uns diffus, was überhaupt als Badestelle bezeichnet werden soll“, verteidigt sich Robert Rath vom Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit. Durch die neue Berliner Bäderverordnung gibt es nun seit zwei Jahren klare Vorgaben – so wurde der Grunewaldsee aus der Liste genommen, weil die badenden Hunde dort schon seit Jahren die menschliche Konkurrenz vertreiben.
In Mecklenburg-Vorpommern gibt man freimütig zu, dass die Kontrollen oft zu teuer waren. Denn in der Badesaison muss die Wasserqualität alle 14 Tage überprüft werden; die Kosten tragen die Gemeinden. „Vielen Kommunen waren die Kosten für die Kontrolle der vielen Badestellen einfach zu hoch“, erklärt Dietrich Brandt vom Sozialministerium in Mecklenburg-Vorpommern.
Doch nicht nur die Kontrollen kosten Geld: „Für viele Kommunen ist es zu teuer, die richtige Wasserqualität herzustellen“, vermutet Winfried Lücking vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND). Denn oft leiten Klärwerke ihre gereinigten Abwässer direkt in die Flüsse und Seen, doch nur der Einbau weiterer Klärstufen würde Badewasserqualität garantieren. „Da ist die Streichung von Badestellen doch eine praktische Lösung, um Kosten zu sparen“, sagt Wasserexperte Lücking.
Im März 2006 wurde die europäische Badegewässer-Richtlinie überarbeitet und verschärft. Schrieb die alte EU-Richtlinie noch vor, dass 100 Milliliter Badewasser 2.000 Bakterien namens „Escherichia coli“ enthalten dürfen, sind in der überarbeiteten Version für Binnengewässer nur noch 900 Bakterien pro 100 Milliliter erlaubt. Im Meer sind sogar nur maximal 500 Bakterien gestattet.
Diese Bakterien kommen im Darm von Menschen und Tieren vor. Sie sind eigentlich harmlos, lösen auch keine Krankheiten aus, eignen sich aber bestens als „Anzeigenkeime“, denn mit ihnen lässt sich sicher nachweisen, dass ein See von außen verunreinigt wird (zu echten Krankheitserregern siehe Text unten).
Da so viele Strände in Deutschland aus der Bäderliste gestrichen wurden, überschreiten jetzt bundesweit nur noch 57 Badestellen die europäischen Richtwerte. Weitere 36 sind so verschmutzt, dass der Sprung ins kühle Nass dort völlig verboten ist (www.ec.europa.eu/water/water-bathing/index_en.html).
Allein im schleswig-holsteinischen Landkreis Rendsburg-Eckernförde überschritten neun der 70 Badegewässer die Brüssler Grenzwerte. Die zuständige Fachbereichsleiterin des Landkreises glaubt jedoch nicht, dass die Badegewässer ihrer Gemeinden verschmutzter sind als anderswo. Anke Latacz-Blume hat alle kritischen Strände besucht: „Die meisten werden gar nicht mehr als Badeorte genutzt.“
Doch nicht immer hilft es den Badenden, verschmutzte Strände zu meiden. Das Umweltbundesamt und die Universität Tübingen haben im vergangenen Jahr erstmals in einer gemeinsamen Studie untersucht, wie viele Menschen sich jährlich beim Baden infizieren. Ergebnis: Von 2.196 Teilnehmern erkrankten 3 Prozent. „Eigentlich müssten die Grenzwerte also noch strenger sein“, fordert Studienautor Juan Lopez-Pila. Allerdings macht er sich keine großen Hoffnungen: „EU-Grenzwerte sind eben immer auch ein politisches Verhandlungsprodukt.“
Und da verhandelt nicht nur Deutschland: Die EU-Kommission hat noch bei zehn weiteren Mitgliedstaaten festgestellt, dass sie die Badegewässerstatistik manipulieren. Seit Anfang der 90er-Jahre sind rund 7.000 Badegebiete aus den amtlichen Listen gestrichen worden – ohne Erklärung.
Nun hat die EU-Kommission ein Mahnverfahren gegen die 11 tricksenden Mitgliedstaaten eingeleitet. Dazu gehören alle beliebten Reiseländer in Westeuropa. „Ich sehe mit Sorge, dass die Schutzbestimmungen der Badegewässer-Richtlinie bei einigen tausend Badegebieten nicht mehr angewendet werden“, sagte EU-Umweltkommissar Stavros Dimas, als er den diesjährigen EU-Badegewässerbericht vorstellte. Nun verlangt er Stellungnahmen von den Umweltsündern. Dann muss sich auch Deutschland zum rätselhaften Schwund seiner Badegewässer äußern.