: Entspannung unter Wolken
Ein neuer Trendsport erreicht das Flachland NRW: Flatland Paragliding. Mit einer Seilwinde werden die Gleitschirmflieger bei Neuss in den Himmel befördert – allerdings nur, wenn die Thermik stimmt
AUS NEUSS LUTZ DEBUS
Kurz hinter der Abfahrt Grevenbroich der Autobahn von Düsseldorf nach Mönchengladbach, zwischen Bohnen- und Spargelfeldern, erstreckt sich ein schmaler Grasstreifen. 1,2 Kilometer ist er lang. Am einen Ende dieses Rollfeldes stehen zwei PKW-Anhänger, auf denen kleine Benzinmotoren rattern. Auf jedem Hänger sitzt vor seinem Armaturenbrett ein Helfer, bedient verschiedene Hebel. Eine komplizierte Mechanik treibt Seilwinden an. Über Funk wird ein Signal gegeben. Das Seil strafft sich, der Motor heult auf. In der Ferne steigt ein kleiner roter Punkt in den grauen Junihimmel.
Nachdem der Rheinländer den Skilanglauf schon nach Düsseldorf geholt hat, Alpiner Sport in einer überdimensionalen schräg stehenden Kühltruhe möglich gemacht wurde, ist nun Flatland Paragliding die neueste Errungenschaft für bergversessene Flachlandbewohner aus Nordrhein-Westfalen. Doch die Teilnehmer am „Longest Day Event“, die sich schon seit den frühen Morgenstunden in den Himmel kurbeln lassen, reagieren auf das Stichwort „Trendsport“ allergisch. So erklärt Dirk Soboll, es sei für ihn als Familienvater einfach nahe liegender, seinen Sport hier ausüben zu können statt wie früher 500 Kilometer in die Vogesen zu fahren. Auch sei die Landung auf ebener Fläche ungefährlicher als in gebirgigen Waldgebieten.
So gesehen erscheint das Flachlandgleitschirmfliegen am Niederrhein tatsächlich besser untergebracht als im Hochgebirge. Zumindest dann, wenn die Thermik stimmt. Ein „steigendes Luftpaket“ könne wie ein Fahrstuhl wirken, so Dirk Soboll. Heute aber bleibt die Sonne hinter einer dicken Wolkendecke verborgen. Nirgendwo warme aufsteigende Luftpakete. Nach zwei, drei Runden – etwa 10 Minuten Flugzeit – landet der rote Fleck neben dem Bohnenfeld.
Trotzdem sei diese Art des Fliegens ein unvergleichliches Erlebnis, schwärmt Soboll. Keine Motorengeräusche, wie schwerelos schwebend, in unmittelbarem Kontakt zu Wind und Wetter. Wie Ikarus? Da lächelt der bärige Mann mit Pferdeschwanz: „Nein wir arbeiten nicht mit Wachs.“ Auch der Schneider von Ulm sei nur bedingt ein Vorbild. Die gaffende Menge, so ein überlieferter Bericht, habe ihn zum Flug gedrängt, obwohl er wegen des Wetters skeptisch war. Das große Vorbild hier auf dem Platz sei Otto Lilienthal, der am Ende des 19. Jahrhunderts mit seinen Gebilden aus Pergament und Sperrholz fast schon ein Paraglider gewesen war. Ein Absturz, der Lilienthal zum Verhängnis wurde, ist inzwischen durch modernste Materialien und ausgereifte Sicherheitstechnik so gut wie ausgeschlossen. Dirk Soboll schüttelt den Kopf: „Das ist kein gefährlicher Sport.“
Der Mann aus Krefeld ist eine Ausnahme auf dem Platz. Nicht mit einem Rucksack auf dem Rücken sondern mit einem Drachen ist er angereist. Drachenfliegen und Paragliding seien zwei Seiten der selben Medaille. Mit dem Drachen könne man schneller, höher und weiter fliegen. „Ein Kollege ist mal bis Rotterdam geflogen“, erzählt Soboll. Wenn er einen Gleitschirm gehabt hätte, hätte er mit der Bahn zurück fahren können. Als Drachenflieger habe er so jedoch mit dem Auto abgeholt werden.
Besonders interessant findet Soboll die Zusammensetzung der Leute, die diesen Sport ausüben. Vom Maler und Anstreicher bis zum Künstler sei hier alles vertreten. Und jeder könne seiner eigenen Lebensphilosophie nachgehen. „Am Himmel zeigen manche Flieger die wildesten Kunststücke und Kapriolen. Andere drehen ein paar Runden zur Entspannung.“ Und natürlich gebe es auch jene, die besonders hoch oder weit oder lange fliegen wollen. Diese Art der Fliegerei sei übrigens kein Sport nur für Reiche. Die Ausbildung haben manch talentierte Paraglider für 1.000 Euro gemacht. Und ein gebrauchter Schirm ist für einen ähnlichen Betrag zu haben.
Vom Feld kommt mit schleppendem Schritt ein Paraglider zu der Gruppe von Schaulustigen. Irgendetwas hat mit dem Aufstieg nicht geklappt. Das Seil hat ihn einige Dutzend Meter über den Acker gezogen. Der Mann sieht aus, als hätte er stundenlang im Schlamm gespielt. „Dafür gibt‘s Waschmaschinen“, lächelt er gequält.