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Archiv-Artikel

WEIN 2: AUCH HARTZ-IV-EMPFÄNGER HABEN RECHT AUF TRINKBAREN WEIN Lob des Supermarktes

Wissen die selbst ernannten Weinzensoren überhaupt, worüber sie reden? Deutscher Wein sei ein „Kulturgut“, behaupten Verbandsfunktionäre, „geprägt von Boden, Klima und dem Können der Winzer“. Bei solch überschwänglichem Lob für die Spitzengewächse von Rhein und Mosel wird gerne unterschlagen, dass der größte Teil des Weins über Billig-Discounter vertrieben und von Menschen getrunken wird, die sich eine Flasche für 5 Euro kaum leisten können – oder wollen, wozu jeder Verbraucher ein Recht hat.

Was dieser Mehrheit der Konsumenten von den deutschen und europäischen Weinproduzenten bislang geboten wird, lässt sich mit dem Begriff „Kulturgut“ beim besten Willen nicht beschreiben. Da wird ein muffiges Etwas als „Rioja“ angepriesen, ein essigsaures Machwerk als „Beaujolais“, eine Art Mineralwasser mit Alkohol als „Soave Classico“. Am schlimmsten aber treiben es die Deutschen. Sie kippen klebrigen Traubenmost, ganz vornehm „Süßreserve“ genannt, in den fertigen Wein – und schreiben dann „Auslese“ aufs Etikett, als handele es sich um ein erlesenes Spitzengewächs.

Trinkbaren Wein auch für Hartz-IV-Empfänger zu erzeugen, diese Kulturleistung haben bisher nur Produzenten aus Übersee zuwege gebracht. Sie allein verfügen über Flächen, die den Anbau von Discounter-kompatiblen Mengen in gleich bleibender Qualität ermöglichen. Sie schonen durch künstlichen Säureabbau die Zunge des Konsumenten. Sie verhelfen schwächeren Gewächsen durch den Einsatz von Holzchips zu einem Eichenaroma, das manchen Mangel gnädig überdeckt.

Auch jene Weinkenner, die so heftig gegen die Öffnung des EU-Weinrechts polemisieren, würden vor einem Discounter-Regal nicht lange zögern – und statt zur „Rheinhessen Auslese“ lieber zum kalifornischen Cabernet Sauvignon greifen, trotz des leicht marmeladigen Geschmacks der künstlichen Aromen. Auf den Rheingau-Riesling oder Wachau-Veltliner als Medium der sozialen Distinktion müssen sie aber auch in Zukunft nicht verzichten, denn Weine mit Herkunftsangabe bleiben von künstlicher Aufhübschung verschont. RALPH BOLLMANN