: Ein Schriftsteller wollte König werden
Zu Peter Handke hat sich eine Lehrmeinung durchgesetzt: Ein großer Dichter sei das, nur leider mit politischer Schacke. Die geheime Treue dieses Autors zur Gruppe 47 kriegt man so aber nicht in den Blick – und gerade aus ihr resultiert viel Verwirrung. Schlussbemerkungen zur Debatte um den Heine-Preis
VON STEPHAN WACKWITZ
In der Diskussion um die Verleihung des Düsseldorfer Heinrich-Heine-Preises an Peter Handke (die gerade wieder, wenn auch etwas künstlich angefacht, aufflackert, weil Berliner Handke-Unterstützer im Umfeld von Claus Peymann sich die Idee eines alternativen Heine-Preises ausgedacht haben, was den Düsseldorfer Stadtrat zu einer Stellungnahme zwingt usw.; es hört eben nie auf!) hat sich die Unterscheidung zwischen dem großen Dichter neben dem unzurechnungsfähigen politischen Denker Handke inzwischen durchgesetzt. Dabei ist Handkes Versuch, idiosynkratische politische Ansichten mithilfe literarischen Prestiges durchzusetzen, im Grunde eine verspätete, ein bisschen verquere und fast nicht mehr erkennbare Neuauflage klassischer literarischer Distinktionsstrategien aus der Zeit der Gruppe 47.
Das „literarische Feld“ (Pierre Bourdieu), das durch diese zugleich literarische und politische Gruppierung in den Fünfzigerjahren geprägt war, lässt sich unter anderem dadurch beschreiben, dass seine Zentralfiguren aus ihrem kulturellen Erfolg das Recht zu dissidenten politischen Stellungnahmen ableiteten. In gewisser Weise haben es Publikum, Kritik und Standesorganisationen jener Zeit sogar als den wirksamsten Maßstab des kulturellen Erfolgs gewertet, mit wie abweichlerischen politischen Ansichten man in der öffentlichen Diskussion durchkam, ohne dass einen die eigenen Leute zur Ordnung riefen.
Linke Pilgerfahrten
Was zum Beispiel ein so sympathischer und menschenfreundlicher älterer Herr wie Heinrich Böll den Siebzigerjahren politisch so alles von sich gab, das liest man heute zum Teil mit ungläubigem Staunen. Von Peter Weiss wollen wir in dieser Hinsicht gar nicht anfangen. Noch 1976 profilierte Alfred Andersch sich dadurch, dass er die Regelanfrage beim Verfassungsschutz vor der Beamtung von Lehrern in einem Gedicht als „Folter“ verfluchte (ohne dass damals jemand gelacht hätte). Und das Folgende ist ein kleiner Abschnitt aus Luise Rinsers „Nordkoreanischem Reisetagebuch“ über einen Besuch bei Kim-Il-Sung Ende der Siebzigerjahre: „Das ist ein Bauer, eine Vaterfigur, mit einer starken und warmen Ausstrahlung, ganz in sich ruhend, heiter, freundlich, ohne Falschheit, mit gelassenen Bewegungen und ruhigem Blick, ganz einfach, ohne jedes Imponiergehabe, witzig und humorvoll auch, wie sich nach einiger Zeit herausstellt. Mir fällt ein, dass Goethe über Napoleon sagte: ‚Voilà un homme‘. Das kann man über Kim Il Sung auch sagen: ein Mann, ein Mensch.“
Es wäre falsch, Handkes Besuche bei Milošević in die Tradition solcher linker Pilgerfahrten der Siebzigerjahre zu stellen. Aber es ist ein gerade in seinen politischen Büchern und Interventionen noch fortwirkendes Leitmotiv der Gruppe 47, dass sie die Konzentration kulturellen Kapitals und die relative Stellung eines Autors im literarischen Feld zu einem großen Teil danach bemessen hat, wie provokatorische politische Ansichten ein Schriftsteller öffentlich folgenlos (oder unter öffentlichem Beifall) äußern konnte.
Handke hat sich auf einer Tagung der Gruppe 47 in Princeton seinerzeit ordnungsgemäß in klassischer Sturm-und-Drang-Pose als junger Wilder eingeführt. Der Grund dafür, dass er damals so Rainald-Goetz-mäßig debütiert und sich solche Mühe beim Schimpfen gegeben hat, kann nur in der Hoffnung gelegen haben, die Königsposition des literarischen Feldes sei noch frei und man müsse sie nur durch ihn, Handke, besetzen, damit alles in Ordnung käme. Seither hat der Schriftsteller Handke mehr literarisch Einmaliges, Unwiederholbares – und ganz einfach: Schönes geleistet als die meisten Literaturkritiker und -historiker zuzugeben bereit sind. Überraschend viele – und gerade die einflussreichsten unter ihnen – sind der Gruppe 47, gegen die Handke in jener loyal-vatermörderischen Weise rebelliert hat, unterschwellig noch verpflichtet. Und die Achtundsechziger-Generation der Literaturkritik, die dieser alten Garde folgte, geht – politisch orientiert, wie sie immer noch ist – allzu oft so gewissenhaft auf Distanz zu Handkes mehrheitsunfähigen politischen Ansichten, dass sie seinem Werk nicht gerecht wird. Es ist unter der Hand so groß geworden, dass man es aus der Nähe nicht richtig betrachten zu können scheint.
Zu fordern wäre demnach zunächst einmal literaturkritische und literaturhistorische Gerechtigkeit für Handke statt der poetisch-politischen für Serbien. Was die befremdliche und zeitweilig geradezu verzweifelte Aufsteifungsenergie seiner politischen Stellungnahmen literatursoziologisch noch besser erklärbar macht, ist nun aber eine Entwicklung, die Beobachtern des literarischen Feldes seit Mitte der Achtzigerjahre auffällt. Die Zentralposition dieses Felds, eine Position, in die seit Flaubert jeder Schriftsteller einrücken will, ist in der Gegenwart aus irgendeinem Grund nicht mehr nachhaltig zu besetzen.
Jeder zeitgenössische Autor, von dem man zu Beginn der Saison denkt, er sei nun wirklich da hingekommen, wo Grass nach dem Erscheinen der „Blechtrommel“ war (Georg Klein, Judith Hermann, Arnold Stadler, Durs Grünbein, you name them) ist nach zwei Jahren zwar vielleicht nicht vergessen; aber doch jeweils wieder keineswegs in der Böll/Grass-Position (oder auch nur im Andersch-Rang). Das Feld hat keine stabile Spitze mehr. Es scheint nur noch aus Nischen zu bestehen. Wenn man deshalb, wie die Zeit neulich, eine autoritative Stimme zu einer der aus ebenfalls hoch signifikanten Gründen immer gewünschten politisch-literarischen „Debatten“ (diesmal eben zur „Handke-Debatte“) haben will, greift man auf Grass zurück, auf die einzige noch lebende Figur also, die ihr kulturelles Kapital zu Zeiten akkumulierte, als das Feld noch hierarchisch organisiert war. Es ist heute aber offenbar nicht mehr hierarchisch organisiert. Ein kulturelles Kapital von Grass’schen Ausmaßen ist gar nicht mehr zu erwerben.
Es ist vermutlich vor allem diese paradoxe Position Handkes im literarischen Feld und zugleich seine immer noch virulente Jungmänner-Energie (sieht er charmanterweise nicht immer noch irgendwie ein bisschen pubertär aus?), die ihm ihm diese politische Kampfkraft auf hysterisch verlorenem Posten zuwachsen lässt. Sie ist vermutlich gar keine genuin politische, sondern letztlich eine literarische Wildheit. Weswegen die derzeit herrschende Lehrmeinung zum Handke-Problem („großer Dichter mit politischer Schacke“) die eigentlich interessanten Punkte des offenbar inzwischen stattgehabten Strukturwandels literarischer Öffentlichkeit nicht recht in den Blick bekommt. Handke, scheint es, will auf dem Umweg über die politische Facette des nicht mehr erreichbaren Gruppe-47-Ruhm-Modells die definitive Position auch im literarischen Feld beanspruchen. Politica movebo, sagt er sich. Das Interessante besteht darin, dass das nicht mehr geht.
Eine hysterische Rede
Denn Handke, was immer er im Einzelnen gesagt haben mag, will damit in Zeiten zurück, in denen Schriftstellerstellungnahmen zu politischen Sachverhalten die Aussagen von Politikern toppen konnten. Diese Zeiten sind vorbei. Er will eine Ausdifferenzierung rückgängig machen, ohne die wir inzwischen nicht mehr auskommen. Er wollte in Düsseldorf in seiner jetzt abgesagten acceptance speech etwas Grundlegendes über den Unterschied zwischen politischer und literarischer Rede sagen. Man muss kein Prophet sein, um sich schon denken zu können, dass dabei wohl so etwas herausgekommen wäre, wie: dass die literarische Rede auch im politischen Distinktionsfeld schärfer sieht als die politischen Fachleute etc. pp.
Das aber ist die verschwiegene Orthodoxie Handkes, seine geheime Treue zur Gruppe 47. Er will dahin, wo Grass und Böll waren und wo heute keiner mehr hinkommt. Hier liegt der literarische Grund dieses vorläufig letzten Einbruchs der hysterischen Rede in den politischen Raum.