SPIELPLÄTZE (16)
: Gelb für Brasilien, Schnaps für alle

FUSSBALLGUCKEN Brasilien gegen Chile im Kreuzberger Tommy-Weisbecker-Haus

Ort: „Linie 1“ im Tommy-Weisbecker-Haus, Kreuzberg, Wilhelmstraße

Sicht: wunderbar. Auf Leinwand von Tresen, Stühlen und Sofa gleichermaßen. Sieben von zehn Gästen tragen zwar Iro, aber alle ohne Gel.

Kompetenz: zweifelhaft. Aber einzelne Koryphäen

Nationalismus: nicht existent. Obwohl: Bei Deutschlandspielen soll etwas mehr los sein.

Wurst: Sehr günstige Getränke (Bier für 1,50, Cola für 1 Euro). Manchmal Salzstängchen und Kekse

In der „Linie 1“ im Tommy-Weisbecker-Haus ein WM-Achtelfinale zu schauen ist eine abwegige Sache. Klassische Public-Viewing-Atmosphäre ist dort nicht zu erwarten. „No national flags and pride“ verkündet schon ein Klappschild vor dem Eingang. Damit ist klar: Hier sind die Spielverderber.

Im Inneren dann, nun ja, gedämpfte Stimmung. Genauer gesagt: Es ist noch keiner da außer einem Barkeeper, der im kühlen Halbdunkel Punk-Kram auflegt. Die Leinwand bleibt selbst fünf Minuten vor dem Anpfiff schwarz. Draußen auf dem Hof sitzen derweil ein Dutzend Gäste und Bewohner in der Abendsonne. Man spricht über die nächste Vokü, das nächste Konzert. Und über ein Schwimmbad, das man wegen der Hitze doch mal hier ausheben könnte: „Hat jemand einen Bagger?“, scherzt einer. Immerhin: Pünktlich nach den Nationalhymnen beginnt in der „Linie 1“ die Übertragung – sogar mit Ton. Zwei Irokesen beginnen zu kickern.

Am Tresen, an der Kreuzung von Ho-Chi-Minh-Straße und Lenin-Allee, finden sich mit etwas Verspätung schließlich die ersten WM-Interessierten ein. Sie müssen nicht lange auf den Jubel warten: „Gelb für Brasilien!“ Das bedeutet: einen sauren Schnaps aufs Haus. Man muss aber an den Tresen, um in den Genuss zu kommen.

Weshalb gerade bei diesem Spiel so wenige zuschauen, ist auch dem altgedienten Punk mit dem Greenpeace-T-Shirt völlig unklar. Immerhin hatte Chile in der Vorrunde die meisten Verwarnungen kassiert. Zehnmal Gelb, einmal Gelb-Rot.

Die 2:0-Führung Brasiliens zur Pause wird mehrheitlich enttäuscht aufgenommen. Underdogs sympathisieren mit Underdogs. Trotzdem lässt man sich die Laune nicht verderben. Statt der Analyse von Oliver Kahn und Katrin Müller-Hohenstein laufen debile Hits. „Sommer, Palmen, Sonnenschein“, „Paul“, „Der lustige Astronaut“ oder „Alleine in der Nacht“. Der DJane hinter der Bar schlägt einige Häme entgegenschlägt. Das heute-journal läuft im Hintergrund, Westerwelle ist ganz schön alt geworden, findet jemand.

Man spricht über die nächste Vokü, das nächste Konzert. Und über ein Schwimmbad im Hof

Als der Schiedsrichter die zweite Halbzeit anpfeift, raunt mir ein Gast zu: „Die Chilenen brauchen jetzt unbedingt ein Tor – psychologisch“. Doch der Anschlusstreffer bleibt aus. Stattdessen wird Chile seinem Gelbe-Karten-Spitzenplatz gerecht: 68., 72., 81. Minute. Karte auf Karte, Schnaps auf Schnaps. „Ich komm mir ja vor wie auf der Arbeit“, sagt die Bardame, die jetzt pro Runde nicht mehr drei, sondern zehn Gläser zu füllen hat.

Beim Stand von 3:0 kann man dann ja auch schon mal vorzeitig gehen und auf dem Heimweg im Café do Brasil am Mehringdamm das Gegenprogramm anschauen: Massen von Menschen in Grün und Weiß drängen auf die Straße. Manche tanzen auf den Stühlen – vermutlich – Samba. Auch sehr schön, durchaus. SEBASTIAN LOSCHERT