: Ich bin in Eile. Ich muss in den Krieg
ZEITGESCHICHTE Unbekannte Briefe Gottfried Benns geben neue Einblicke in die Brüsseler Jahre des Expressionisten
■ Der Expressionist: Anlässlich des sich jährenden Todestages von Gottfried Benn (1886–1956) am 7. Juli erinnert Holger Hof an die Rolle des umstrittenen Expressionisten aus Berlin während des Ersten Weltkriegs. Unbekannte Briefe Benns an den Historiker und Friedrich-Engels-Biografen Gustav Meyer sowie an den Berliner Maler Waldemar Rösler werfen ein neues Licht auf Benns Leben als Militärarzt in Brüssel in den Jahren 1914 bis 1917.
■ Die Forschung: Unser Autor Holger Hof schreibt zurzeit an einer Biografie Benns. Der Dichter gilt als Kultfigur der literarischen Moderne, war Arzt und Soldat im Ersten Weltkrieg. Sein Wirken umspannt Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazidiktatur bis zur Bonner Republik. Das Buch soll 2011 bei Klett-Cotta erscheinen.
VON HOLGER HOF
Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges erhielt Gottfried Benn, der in Bischofsgrün eine Vertretung in einer Lungenheilstätte übernommen hatte, mit dem ersten Schub der Mobilmachung seinen Gestellungsbefehl. In München, wo er seit Mai lebte, heiratete er noch schnell die acht Jahre ältere Edith Brosin, ehe er am 1. 8. 1914, zum Oberarzt befördert, zur Res.-Kompanie des 3. Pionier-Bataillons von Rauch in Spandau (6. Res-Div.) stieß, das dem von General von Beseler geführten Verband des III. Res.-Korps unterstand.
Nach der Erstürmung Antwerpens trat Benn seinen Dienst im Brüsseler Parlamentsgebäude beim Gouvernementarzt an, wo er unter anderem für die Organisation der Krankenzüge verantwortlich war. Für Verdienste auf dem Kriegsschauplatz erhielt er das Eiserne Kreuz 2. Klasse und trug es fortan im Knopfloch, am schwarzen Band mit weißer Einfassung.
Seinen Dienst erlebte nicht nur er als bedrückend: „Hier wimmelt es von Intriguen, Klatsch und Scheelsucht“, erinnerte sich der Leiter des Pressebüros Gustav Mayer, der sich mit Benn öfter abends zum Essen traf. Seinem Ekel machte Benn verschlüsselt als „Oberarzt Dr. Olf“ Luft. Dass er in den antimilitaristischen Weißen Blättern und der links-undogmatischen Aktion publizierte, verdeutlich seine damals entschieden antibourgeoise Haltung.
In der Szenenfolge „Etappe“ liest man: „Wie kommt das Land, das von den Wunden seiner Jugend lebt und durch die zerschossenen Lungen seiner Knaben atmet, dazu, mit dem Hotelbau Ihrer geistigen Persönlichkeit das verkommenste aller moralischen Systeme in dieses von uns eroberte Reich zu überpflanzen, in diese Stadt, deren Steine noch warm sind vom Blut der Knaben, die Sie bespeien würden?“ Am Ende lässt der Gouvernementarzt den jungen Kollegen in eine der „reorganisierten Irrenanstalten“ einweisen. Gut zwei Jahre später galt Benn alias „Diesterweg als erkrankt und wurde nach Berlin zurückgeschickt“ („Diesterweg“).
Einblick ins Brüsseler Leben gibt die tagebuchartige Novelle „Die Eroberung“. Sie berichtet vom Ende eines Frühlingstages, den Gassen im Quartier des Marolles und einer Kellerbar, möglicherweise hieß sie Gaité – hier war ich seit Ihrem Abgang 1x, dann, denken Sie, der große Tänzer, der Niggerfürst – er ist nicht mehr. Wohin er geraten ist, weiß ich nicht. Auch die Sängerin Toska, die seinerzeit dem kleinen Dieb von Säufer im Lavatory an die Hose fasste, Sie werden sich erinnern, ist auch nicht mehr da. Der Nachwuchs ist minimal, ohne Größe u. einheitliche Lebensauffassung. (19. 12. 15, an Waldemar Rösler)
Am 8. 9. 1915 wurde Benns Tochter Nele geboren. Am Vortag hatte der Spionageprozess gegen die englische Krankenschwester Edith Cavell und den Architekten Philippe Baucq begonnen, zu dem Benn abkommandiert war. Es gelang ihm trotzdem, vor dem Urteilsspruch sein Kind in den Arm zu nehmen. In Hellerau war es sehr gemütlich; warmes Wetter, liebe Sonne, Dorf u. Äcker und Birkenwiesen u. vor allem mal acht Tage lang kein Krieg u. Greisenzeit u. Eitelkeitsgestank (ebd).
Am Morgen des 12. 10. wurden die Todesurteile vollstreckt. „Ohne Zaudern, ohne Stocken geht sie abwärts, wo die Pfähle stehen (…) Ein Kommando für beide; Feuer, aus wenigen Metern Abstand und zwölf Kugeln, die treffen. Beide sind tot (…) Nun schreite ich an den Pfahl, wir nehmen sie ab, ich fasse ihren Puls und drücke ihr die Augen zu“ (Benns Augenzeugenbericht: „Wie Miss Cavell erschossen wurde“). Liesbet Dill, Frau des neuen Gouvernementarztes Wilhelm v. Drigalski, beschrieb in dem Roman „Die Spionin“ das Schicksal einer Lothringerin in Brüssel, die verurteilt und erschossen wird: „Der Arzt kniete neben ihr und befühlte ihr Handgelenk; während die erschreckten Vögel auf die Mauer flogen, sich setzen und wieder aufflatterten, stellte er den eingetretenen Tod fest.“
Bis die Schenkel zitterten
Zur Eindämmung von Geschlechtskrankheiten wurden die sozialhygienischen Maßnahmen bei Prostituierten und Soldaten verschärft. Drigalski ordnete unter Strafandrohung an, den vollzogenen Beischlaf unmittelbar zu melden und sich desinfizieren zu lassen. Wenn Sie nun bald nach Brüssel kommen sollten, so fragen Sie bitte telefonisch beim Gouvernementarzt an, wo ich sein werde; da ich in kürzester Zeit mich hier abtrolle, da mein Verhältnis zu Drig. unmöglich geworden ist u. er partout seinen Assistenten an meine Stelle will. Also, in Gottesnamen. Was ich anfangen werde, weiß ich noch nicht. Ich ginge gerne an das Krankenhaus St. Gilles, wo die Gaité-säue kontrolliert u. geschmiert werden, aber es ist schwer da anzukommen (…) Hier werden weiter Säuglingsheime gegründet, Reden gehalten, Prinzessinnen spazieren geführt. Eben war ich nun 1 Stunde bei Drigalski drin mit Unterschriften. Hauptsächlich gehe ich von ihm fort, weil er in Verfügungen u dergl. immer die unwesentlichen Stellen mit dünnen Bleistiftstrichen unterstreicht; das finde ich so sehr ärgerlich (19. 12. 15, an Rösler).
„Ich habe hier absolut nichts zu suchen.“ Mit diesen Worten betritt Jef van Pameelen in „Der Vermessungsdirigent“ den Flur eines Hurenkrankenhauses, das unschwer als das Krankenhaus St. Gilles erkennbar ist, wohin Benn sich Anfang 1916 versetzen ließ. Man greift in Vorderleiber, man sticht in Hinterteile, man ist immer dicht an der Mutter Erde u. dem grünen Gras, in das wir alle beißen. (17. 1. 16, an Rösler) Während die gute alte Morgue in Berlin konfisziert (25. 2. 16, an Paul Zech) wurde – selbst die Lyrik wird militärisch organisiert und Nachtigall u. Veilchen wieder in ihr Recht eingesetzt (8. 3. 16, an Meyer) –, entstand mit der „Reise“ und dem „Geburtstag“ die herrlichste Prosa.
Benn war aus der Rue de la Loi in eine Etagenwohnung in der Rue St. Bernard gezogen: Hier geht es mir sehr gut. Ich bin nämlich nicht mehr am Gouvernement; ich vertrug die Hofluft nicht mehr; ich bin jetzt der Huren- (Pardon!)Doktor u. untersuche täglich vormittags 200-300 Brüsseler Kokotten auf Lustdienstfähigkeit; sie stehn im Alter von 14 bis 60 Jahren, haben Lupus, Krätze, Flechten u. Fisteln; sonst aber sind sie sehr schön und man lernt die derniers cris von Chemisen und Combinations kennen (8. 3. 16, an Mayer). Stimmungsaufheller wurden konsumiert, „bis die Schenkel zitterten“ („Der Vermessungsdirigent“). Am 2. 5. 1916 wurde Benn 30 und resümierte: „Was war er? Arzt in einem Hurenhaus. (…) Nun ist es Zeit, daß ich beginne“ („Der Geburtstag“).
Als Benn seinen Novellenband „Gehirne“ im Kurt Wolff Verlag untergebracht hatte, wurde Karl Zieler aus Würzburg mit der Neueinrichtung des Kriegslazaretts IV für Haut- und Geschlechtskranke betraut. Offenbar hielt Zieler Benn dazu an, wissenschaftlich zu arbeiten. In der Zeitschrift für Urologie erschien Benns Aufsatz „Nebenwirkungen bei Arthigon“, dem Mittel, mit dem „sämtliche Komplikationen der Gonorrhoe“ behandelt wurden.
Seine Ehe war zwischenzeitlich in eine Krise geraten: Die Tragödie mit meiner Frau fängt an: Tränenbäche und Todessehnsucht, was soll ich machen? Sagt man nichts u. lebt mit einer anderen Frau zusammen, ist man nachher ein Schwein. Sagt man was, ist man roh und lieblos. Aus meinem roten Haus ziehe ich aus. Es wurde in den letzten Tagen so von belgischen Detektivs beobachtet, die den Mann meiner Freundin festhalten wollten; einen habe ich verhaften lassen u. ihn unserer Polizei übergeben; aber nützen wird es ja nichts. Wir ziehen in eine abgelegene Straße u. in eine verkommene Pension; die Stuben werden da kleiner, die Romantik größer sein (5. 8. 16, an Rösler). Mittlerweile hatte Benn Carl Sternheim, der seit 1907 mit der Millionenerbin Thea Bauer verheiratet war, kennengelernt. Sternheim war anscheinend verärgert, dass ich ihn nicht in La Hulpe besuchen wollte (ebd.).
Rückzug nach Berlin
Benn steckte in Arbeit. Im Verlag der Aktion sollte mit „Fleisch“ ein Band gesammelter Lyrik erscheinen – Abschluss einer erledigten Epoche. Literarisch geordnet wollte er seinen Rückzug nach Berlin einleiten. Für Thea Sternheim blieb er auch nach seinem Antrittsbesuch am 3. 2. 1917 undurchschaubar: „Was er denkt, so politisch, literarisch oder menschlich, wird mir immer noch nicht klar“ (21. 5. 17, Tagebuch).
Im Mai erschien das rapide Drama „Karandasch“, eine ironisch gebrochene Auseinandersetzung mit Sternheim, der sich überraschenderweise einer Ausmusterungskommission stellen musste. Dank Benns Hilfe blieb es bei Sternheims Kriegsuntauglichkeit, der sich mit einer fulminanten Kritik revanchierte: „Benn ist der wahrhaft Aufständische. Aus den Atomen heraus, nicht an der Oberfläche revoltiert er.“
Als Gottfried Benn am 10. 11. 1917 eine Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten eröffnete, wurde an allen Fronten eines ihn krank machenden Krieges gekämpft. Im dritten Jahr kriegsuntüchtig geworden, war er aus unbekannten Gründen aus der Armee entlassen und nach Berlin zurückgeschickt worden.
* kursiv: Zitate aus Benns Briefen