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Archiv-Artikel

Eine Geschichte, eins, zwei, drei

TANZFESTIVAL Kurzgeschichten, Reflexionen über Abschied und Ankünfte, mit Milch gefüllte Gummistiefel – bei den Tanztagen Berlin in den Sophiensälen stellt sich der junge zeitgenössische Wildwuchs der Tanzszene vor

Tanz in und um Berlin

■ Bunt, queer, international. So beschreiben die Kuratoren Peter Pleyer – der die Tanztage dieses Jahr letztmals leitet – und Ariane Hoffmann das Programm der Tanztage Berlin, das noch bis zum 14. Januar in den Sophiensælen auch Quereinsteiger in die Tanzszene wie Wooguru (rechts im Bild) präsentiert. www.tanztage.de

■ Tanz gibt es derzeit auch in Potsdam: Beim Festival „Made in Potsdam“ trifft in der Schiffbauergasse bis 16. Februar die internationale Tanzszene auf lokale Künstler. Mehr dazu heute im taz.plan.

VON MAREEN LEBEDUR

In Absatzschuhen und mit Milch gefüllten Gummistiefeln kam am Dienstagabend das Solo Projekt Poznan in die Sophiensäle. Als erstes Residenzprogramm Polens startete das Projekt 2006, um polnische Nachwuchskünstler zu unterstützen. Seit 2010 ist es regelmäßig zu Gast in den Sophiensaelen bei den Tanztagen Berlin. Und was da unter Leitung von Joanna Lesnierowska Ungewöhnliches geschieht in Polen, zeigten Baska Gwódz, Korina Kordova und Agata Siniarska in ihren Solostücken.

In schwarz-weißem Kostüm und mit wechselnden Haarfarben, den Mund weit geöffnet, posierte etwa Agata Siniarska auf der Bühne. Jean Luc Godard traf in ihrer Choreografie auf Porno, auf furchtbar komische Art und Weise änderte sie ihre Körperpositionen, während ein Stöhnen aus ihrem Bauch heraus mal gelangweilt, mal schrill, mal monoton klang.

Die Tanztage Berlin, das Nachwuchsfestival für jungen zeitgenössischen Tanz, zeigt noch bis 14. Januar erste choreografische Arbeiten. Wie vielfältig dabei die Kunst aufgefasst wird, war in den Sophiensaelen bereits bei den drei die Tanztage eröffnenden Stücken am Samstag und Sonntag zu sehen.

In „Au Prêt du Temps“ ging der Körper Ahmed Souras, Choreograf und Tänzer aus Burkina Faso der schon mit Christoph Schlingensief gearbeitet hat, auf Entdeckungsreise. Still auf dem Boden liegend, stets präsent. Johannes Lauer spielte Trompete, zu deren verschluckten und röchelnden Tönen Soura konstant zwischen Ruhe und energischen Momenten wechselte.

Auf eine andere Art von Suche begab sich Jorge Rodolfo de Hoyos aus San Francisco. Vom Reisen handelte „Departing Things“, vom Umziehen. Aneinandergereihte Szenerien von Abschied, Ankunft, Liebe und Ungewissheit. Als freier Künstler ist de Hoyos auf das Wegziehen und ständiges Umdenken angewiesen. Sein Stück ist Teil einer Untersuchung dieser Momente. „Warum musst du gehen?“ wird gefragt. Auf das aktuelle Wohlbefinden beziehen sich die Antworten, oder besser gesagt, das Unwohlsein, wie sich die Lippen anfühlen, wie warm das Licht ist. Manche Momente beruhigen, andere sind penetrant, Fliegen schwirren durch die Luft.

Eine knappe Stunde brauchte de Hoyos für seine Choreografie, viel knapper gab sich Kareth Schaffer. In nur drei Minuten erzählte sie eine Geschichte. In „As Easy as 1, 2, 3“ wurde radikal minimiert: Licht, Wort, Bild. Die Bewegungen fanden im Dunkeln statt, der Zuschauer sah eigentlich nur Standbilder im kurzen Scheinwerferlicht. In manchen Momenten glühten die Bilder nach und stark geschminkte falsche Wimpernpaare schwammen durch das Dunkel. Man sah einen Handkuss, eine eng umschlungene Umarmung, die Finger zur Waffe geformt. Das Spiel mit den Augen der Zuschauer in diesen kurzen Momenten, es endete tragisch auch in der so kurzen Zeit.

Ein Handkuss, eine eng umschlungene Umarmung, die Finger zur Waffe geformt

„Wie lang muss ein Tanzstück sein, um noch Tanzstück zu sein“, fragt Schaffer. Selbst hat sie sich wissenschaftlich, anthropologisch und ästhetisch mit dem Körper auseinandergesetzt. Nach ihrem Abschluss in Europäischer Ethnologie hat sie vergangenes Jahr ihren Abschluss am hochschulübergreifendem Zentrum Tanz Berlin gemacht.

Tendenz zur Ausbeutung

Das Gastspiel bei den Tanztagen ist erst ihr zweiter Profiauftritt. Für 2014 hat die Choreografin und Performerin die Einstiegsförderung des Senats erhalten. Trotzdem beschäftigt sie sich auch mit der prekären Situation von Freischaffenden. Zusammen mit Julek Kreutzer rief sie 2012 das Projekt „The Artist’s Pledge“ ins Leben. „Im Tanzbereich werden Menschen aufgefordert, sehr diszipliniert mit ihrem Körper umzugehen, und sie haben eine Neigung zur Selbstausbeutung“, sagt Schaffer. Auf diese ausbeuterischen Tendenzen in der Tanzszene wollen die beiden aufmerksam machen. „Wir können über Geld klagen, aber wir können selber dafür sorgen, dass es uns gut geht“. Mit einem individuellen Künstlergelöbnis habe jeder Freischaffende die Möglichkeit, Eigenverantwortung für seine Arbeitsbedingungen und seine Wertvorstellungen zu übernehmen.