„Ich würde den sogar noch mal lesen“

Ein Wahlpflichtkurs macht ernst: Elf SchülerInnen der Technischen Berufsschule in Kiel erarbeiteten eine Ausstellung zu Günter Grass‘ Novelle „Im Krebsgang“, für die ihnen der Nobelpreisträger auch seinen Ordner mit Leserbriefen zur Verfügung stellte. Derzeit ist die Ausstellung in Bremen zu sehen

von HENNING BLEYL

„Wahlpflichtkurs Literatur“ klingt nicht nach großem Tennis. Eher nach „irgendwo muss man noch ein paar Punkte holen“. Und das geht an schleswig-holsteinischen Oberstufen wahlweise mit Musik, Kunst oder eben „Literatur“, parallel zum allgemeinen Deutschunterricht. Musische Anhängsel zu „Hard Fact“-Fächern wie Mathe oder Physik, denkt man, wobei das mit der „Pflicht“ durchaus ernst gemeint sein kann. Der Lehrer Torsten Stellmacher zum Beispiel vergattert seine SchülerInnen schon am dritten Tag nach Übernahme des Literaturkurses zum Besuch einer Dichterlesung: Günter Grass in einer Kieler Kirche, und das am Samstagabend.

„Begeistert waren wir nicht“, erzählt Tobias Teich von der Beruflichen Schule am Schützenpark, Abteilung Technik. Auch jetzt noch würden seine MitschülerInnen „Im Krebsgang“, das vorgetragene Werk, nicht eben berauschend finden. Verändert hat sich trotzdem etwas: Zwischenzeitlich konnten sie ihre Kritik dem Meister selbst vortragen, denn in den anderthalb Jahren seit der abendlichen Pflichtveranstaltung ist eine selbst gemachte Grass-Ausstellung entstanden. Sie schaffte es vom Schulfoyer in die schleswig-holsteinische Landesbibliothek und wird von dort gerne weitergereicht. Derzeit ist sie in der Bremer Stadtwaage zu sehen, als weitere Stationen sind Schwerin und Neumünster im Gespräch, sogar Danzig. Dort legte 1945 der Flüchtlingsdampfer „Wilhelm Gustloff“ ab, dessen Untergang im Zentrum der „Krebsgang“-Novelle steht.

Stellmacher, frisch dem Referendariat entsprungen, hat seine SchülerInnen nicht nur auf die mäandernde Erzählstruktur angesetzt, sondern auch einen Leitz-Ordner mit rund 300 Briefen an Grass durchforsten lassen. Zuschriften von „Gustloff“-Überlebenden, deren Nachkommen, dem Bundespräsidenten und von Rechtsradikalen, die die Vertriebenen-Katastrophe bislang als propagandistisches Terrain beanspruchten. Genug Stoff also für eine facettenreiche Rezeptionsausstellung. John Irving schreibt an „Dear Günter“: „The narrative between past and present is seamless.“ Jemand fragt, ob Grass jetzt die Überlebenden-Treffen organisiere und eine 86-jährige Sylterin wundert sich über Detailkenntnisse: „Wie konnten Sie wissen, dass unsere Kindergruppe in letzter Minute auf ein anderes Schiff verlegt wurde?“

Seit „Ein weites Feld“ beschäftigt Grass den Hamburger Historiker Olaf Mischer als Rechercheur. Ein Elektroingenieur hat trotzdem einen Fehler gefunden: Grass lässt einen Quecksilber-Gleichrichter „wummern“. Aber: „Der knistert höchstens. Ich empfehle, das bei der nächsten Auflage zu streichen.“ Der durchschlagende Verkaufserfolg des „Krebsgang“ hätte dazu schon oft Gelegenheit gegeben. Grass‘ Sekretariat, auch das dokumentiert die Schau, antwortet dem Ingenieur jedoch schlicht: „Er besteht darauf – die Maschine hat gewummert.“ Angesichts der Begeisterung, mit der Grass auf einem seiner regelmäßigen Übersetzertreffen den Gleichrichter-Sound intonierte, eine verständliche Reaktion.

Keine Frage: Die Kieler BerufsschülerInnen haben den Nobelpreisträger auf eine Art kennen gelernt, von der Germanistik-Studierende nur träumen können. „Normalerweise kommt man in der Schule bis ,Katz und Maus‘, vielleicht wird dann noch die ,Blechtrommel‘ als Film angeguckt“, sagt Donate Fink von der Bremer Grass-Stiftung. Umso bemerkenswerter findet sie das Engagement der KielerInnen, das auch Grass dazu bewogen hat, seinen Korrespondenz-Ordner herauszurücken. Zu einem Zeitpunkt, als das Wahlpflicht-Halbjahr schon vorbei war und SchülerInnen und Lehrer auf freiwilliger Basis weitermachten. „Das wurde immer ein bisschen mehr“, sagt Tobias Teich. „Aber Herr Stellmacher hat ja auch so viel gemacht.“

Kann man wohl sagen. Sie haben eine kritische Veranstaltung mit dem Überlebenden und „Gustloff“-Sammler Heinz Schön organisiert, der sein Material ganz unbedarft einem rechtsgerichteten Kieler Verlag zur Verfügung stellt. Ein früherer Maschinist hat sich bei den SchülerInnen gemeldet, der mit der „Gustloff“ seinen fünften Schiffsuntergang erlebte – über den entstand ein Film. Und gerade erst, kurz nach dem eigenen Schulabschluss, haben sie in Bremen eine Lehrer-Fortbildung geschmissen – „da fühlt man sich ganz gut“. Im schleswig-holsteinischen Kultus-Deutsch heißen solche Erfahrungen und Fähigkeiten „Selbstkompetenz“. Aber auch die Sachkompetenz in Sachen Grass ist durchaus gewachsen. Tobias Teich sagt es so: „Ich würde den sogar noch mal lesen.“

Die Ausstellung ist in der Bremer Stadtwaage zu sehen. Öffnungszeiten nach Absprache unter ☎ 0421/364-8243, -9565