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Archiv-Artikel

„Wie der Ball fliegt, wie der abgeht“

Trainer Ralf Rangnick findet nicht, dass die Spiele der WM enttäuscht haben. Wirklich neue Strategien auf dem Platz gab es bisher allerdings noch nicht

INTERVIEW DANIEL THEWELEIT

taz: Herr Rangnick, nach den Achtelfinalspielen brach die Enttäuschung über diese WM durch. Geht es Ihnen auch so?

Ralf Rangnick: Jetzt warten Sie mal ab. Die WM geht doch jetzt erst los.

Naja, 56 von 64 Spielen sind gespielt, da kann man schon einen ersten Eindruck haben.

Ich finde nicht, dass diese Weltmeisterschaft bisher enttäuscht hat. Die meisten Mannschaften haben gezeigt, was man von ihnen erwarten konnte. Die Achtelfinalspiele haben nur gezeigt, dass es da um Ausscheiden oder Weiterkommen geht. Da steht weitaus mehr auf dem Spiel, und dann riskieren die Mannschaften weniger.

Und am Ende kommen diejenigen weiter, die als Nation über die größere WM-Historie verfügen. Alle sechs Teilnehmer, die schon mal Weltmeister waren, stehen im Viertelfinale.

Zum ersten Mal ist es so, dass die großen Nationen bei einer Weltmeisterschaft nicht nur ihre besten Spieler zur Verfügung haben, sondern eben auch absolute Toptrainer. Speziell bei einer WM in Europa war es daher zu erwarten, dass sich die Mannschaften durchsetzen, die man von vornherein zu den Favoriten zählen konnte.

1998 waren die Vorrausetzungen ganz ähnlich, nur da gab es eine Vielzahl begeisternder Spiele. Jetzt sagen viele Leute, dass es bisher nur eine wirklich hochattraktive, ausgeglichene Partie mit zwei ebenbürtigen Teams gab: Argentinien – Elfenbeinküste.

Das sehe ich nicht so. Ich habe auch andere richtig tolle Spiele gesehen, Holland – Elfenbeinküste, Portugal gegen Holland, das war zwar überlagert von der „Auge um Auge, Zahn um Zahn“-Situation, das war aber sehr intensiv mit allem, was den Fußball ausmacht. Das war ein Spiel auf sehr hohem Niveau.

Haben Sie etwas Überraschendes entdeckt in den bisherigen Spielen?

Es war sehr auffällig, dass es eine enorme Anzahl von Schüssen und Toren aus der Distanz gab, was sicherlich mit der Qualität des neuen Balls zusammenhängt. Auch der Umstand, dass viele Mannschaften sehr kompakt verteidigen, machen Distanzschüsse zu einem attraktiven Mittel. Vor allem aber merken die Spieler im Training, wie der Ball fliegt, wie der abgeht. Und wenn man im Training seine Erfolgserlebnisse hat, dann probiert man das auch im Spiel öfter.

Demnach ist eine Entwicklung des Materials die größte Innovation des Turniers?

Etwas wirklich Neues gab es im Spiel selber tatsächlich bisher nicht. Es ist aber noch mal ganz deutlich geworden, wie viel man mit dieser Kombination aus Präzision und Geschwindigkeit anrichten kann. Die Elfenbeinküste hat mich völlig fasziniert mit ihrer Spielweise, die offensiven fünf in dieser Mannschaft mit ihrer bedingungslosen Bereitschaft, sofort auf Offensive umzuschalten, das war schon beeindruckend. Auch andere Mannschaften wie Argentinien, Portugal und Spanien haben eine beeindruckende Kombination aus Geschwindigkeit, exzellenter Technik und Präzision gefunden. Dagegen ist kaum ein Kraut gewachsen.

Wie finden sie denn die behäbigen Brasilianer?

Sie wirkten nicht souverän, aber ich glaube nicht, dass sie bisher schon bis zum Anschlag gefordert wurden. Man erwartet von denen immer Fußballfeuerwerke, aber bisher war das nicht notwendig. Sie haben am Ende eigentlich immer sehr souverän gewonnen. Sie haben eine extrem hohe Einzelspielerqualität, und der Trumpf Mannschaft war bei ihnen noch nicht gefragt. Was sie wirklich mannschaftstaktisch drauf haben, da wurde ihnen noch nicht auf den Zahn gefühlt. Aber ich bin sicher, dass das gegen Frankreich anders wird.

Sind Sie überrascht von den Deutschen?

Ja, klar. So etwas hätte niemand vorhersehen können. Mit Ausnahme von Arne Friedrich, der immer noch nicht in Form ist. Aber dadurch, dass der Trainer an ihm festgehalten hat, konnte er sich von Spiel zu Spiel leicht verbessern. Alle anderen Spieler sind in Topform, sie strotzen vor Selbstvertrauen, und mittlerweile hat man auch das Gefühl, dass sie die Lektionen aus den Spielen gegen Italien, Japan und auch ein Stück weit noch gegen Costa Rica gelernt haben. Die Mannschaft steht nicht mehr so hoch, bietet nicht mehr so viele Räume im Rücken an, wo der Gegner einfach nur noch drüberspielen und reinrennen muss. Da hat man die richtigen Schlüsse gezogen. Auch das Pressing ist verbessert, es ist nicht mehr nur Motivationspressing, sondern das Team findet die richtigen Momente zum Pressen. Das finde ich als Trainer besonders interessant. Jetzt sind wir schon eine Mannschaft, die wirklich gewinnen kann.

Ein Faktor ist auch das Funktionieren der Gruppe. Jürgen Klinsmann hat sehr stark darauf geachtet, dass er 23 Leute mitnimmt, die in der Lage sind, ein konstruktives soziales Gefüge zu entwickeln. Auch die ganze Vorbereitung mit Familienanschluss war exakt durchdacht in diese Richtung. Selten ist das bei einem Trainer so offensichtlich. Wird dieser Punkt von anderen Teams und vielleicht auch von Klubtrainern unterschätzt?

Es ist in jeder Mannschaft elementar, auf das Funktionieren der Gruppe zu achten. Ein Nationaltrainer hat zwar die Zwänge des öffentlichen Drucks durch die Medien, aber es gibt keine anderen Zwänge wie vielleicht Vertragslaufzeiten. Ein Nationaltrainer kann sich immer völlig frei entscheiden, wen er dazu nimmt und wen nicht. Diese Freiheit hat ein Klubtrainer nicht.

Zum Schluss vielleicht noch ein Wort zu den Schiedsrichtern: Zu Beginn waren die überragend, irgendwann ist das aber irgendwie entglitten.

Es gibt einfach welche, die gut pfeifen, andere, die nicht gut pfeifen, wie in der Bundesliga. Und bei Portugal – Holland hätte Boulahrouz vom Platz gestellt werden müssen, na klar. Aber es gibt einfach Unterschiede in der Qualität, aber das gehört zum Spiel einfach dazu.

Es gibt ja nach einem großen Turnier oft einen Trend, einen neuen Stil, der dann von vielen kopiert wird, sehen Sie so etwas bei dieser WM?

Ich würde sagen, da muss man wirklich abwarten, dann muss die WM rum sein, und man muss aufpassen, dass man keine Einzelheiten herauspickt und überbewertet. Wie gesagt, die Kombination aus Tempo und Präzision, die auch in der Champions League oft zu sehen ist, der One-Touch-Fußball oder Highspeed-Fußball – es ist einfach diese unwiderstehliche Kombination aus extremer Schnelligkeit und der Fähigkeit, auch bei allerhöchstem Tempo keine Fehler zu machen. Zu sehen, wie beispielsweise 50-Meter-Diagonalbälle gespielt werden und der Empfänger, unter dem Druck des Verteidigers, den Ball so an- und mitzunehmen weiß, dass man einen kleinen Vorsprung hat. Mannschaften, die das hinbekommen, die bekommen sofort Torchancen.

Wer zeigte denn Ihrer Meinung nach diesen Fußball bei dieser WM?

Die Elfenbeinküste zum Beispiel. Wenn die nicht ihre Schwächen in der Abwehr und im Tor gehabt hätten. Mit der Abwehr von Ghana hätte die Elfenbeinküste sehr weit kommen können.