: Eigeninitiative lohnt sich nicht
BÜROKRATIE Ein gehörloser Langzeitarbeitsloser will raus aus dem Schlamassel und sucht sich einen Ausbildungsplatz. Doch der Behördendschungel macht ihm einen Strich durch die Rechnung: Die Absicherung des Lebensunterhalts hat er verloren
VON SUSANNE MEMARNIA
Marian Richter versteht die Welt nicht mehr. „Das Jobcenter will mich wohl nicht als Kunden verlieren“, sagt er in Gebärdensprache. Unter seinem Vollbart lächelt er traurig, während die Dolmetscherin die Zeichen in gesprochenes Deutsch übersetzt. Tatsächlich klingt die Geschichte des 34-Jährigen fast zu absurd, um wahr zu sein: Nach sechs Jahren Arbeitslosigkeit hat er eine schulische Ausbildung angefangen. Das Jobcenter Pankow streicht ihm daraufhin die Bezüge, weil er Bafög bekommen könnte – was jedoch nicht der Fall ist. So steht Richter seit fünf Monaten ohne einen Cent da. Der einzige Ausweg scheint zu sein, die Ausbildung abzubrechen und wieder Hartz IV zu beantragen.
Eigentlich dachte Richter, dass man ihm helfen würde beim Jobcenter – schon allein damit er dem Staat nicht zeitlebens auf der Tasche liegt. Sozialassistent möchte er werden, mit dem Abschluss hätte er gleichzeitig den Mittleren Schulabschluss und könnte die ersehnte Erzieherausbildung machen. „Dazu gab es schon im Februar ein Gespräch mit seiner Sachbearbeiterin, die seine Pläne befürwortete und zusicherte, sich um die Absicherung des Lebensunterhalts zu kümmern“, erzählt Dörte Springer von der gemeinnützigen GmbH Sinneswandel. Sie unterstützt Gehörlose unter anderem bei der Ausbildung, stellt Schulbegleiter, hilft bei Anträgen, telefoniert mit Ämtern. Für sie sei diese positive Rückmeldung des Jobcenters sehr wichtig gewesen, so Springer. „Wenn wir gewusst hätten, dass es Probleme mit dem Lebensunterhalt gibt, hätten wir ihm nicht dazu geraten, die Ausbildung anzufangen.“
Aufgrund der Empfehlung des Jobcenters, erzählt Richter, habe er sich bei der Beruflichen Schule für Sozialwesen Pankow beworben – und Ende März eine Zusage für die Ausbildung bekommen. „Ich habe mich so gefreut, dass sich mein Leben endlich zum Positiven ändert“, sagt er. „Ich würde gerne integrativ mit Kindern arbeiten und gehörlosen Kindern helfen. Damit sie es einmal leichter haben als ich.“
Richters Schullaufbahn ist typisch für einen Gehörlosen. Bis in die 80er Jahre wurde in Gehörlosenschulen nur nach der oralen Methode, also in Lautsprache unterrichtet. Gehörlose sollten sprechen und von den Lippen lesen lernen, die Gebärdensprache wurde nicht gelehrt. So erging es auch Richter, der von Geburt an taub ist und Mitte der 80er Jahre in Leipzig eingeschult wurde. „Die Lehrer waren zwar nett, aber ohne Gebärden geht das Lernen einfach nicht“, erinnert er sich. Heute ist bekannt, dass von den Lauten der deutschen Sprache nur 33 Prozent von den Lippen abgelesen werden können. „Den Rest müssen sich Gehörlose zusammenreimen“, erklärt Richters Freundin Elisabeth Gawenda, die Gebärdensprachdolmetschen studiert. Gehörlose galten darum früher oft als minderbemittelt. So auch Richter: „Seine Lehrerin sagte, er sei zu schlecht in Deutsch und müsse auf die Hauptschule“, so Gawenda.
Mit dem Hauptschulabschluss aber hatte der inzwischen nach Berlin umgezogene Richter nicht viele Möglichkeiten. „Eigentlich wollte ich Zeichner werden, aber beim Arbeitsamt sagten sie mir, das gäbe es für Gehörlose nicht“, sagt er. Auf einer sehr kurzen Liste von Berufen, die Menschen wie ihm damals zugänglich waren, suchte er sich Tischler aus. In diesem Beruf kann er allerdings wegen einer Allergie nicht mehr arbeiten, wie ein ärztliches Attest bestätigt.
Dennoch hat sich der hochgewachsene, schlanke Mann nicht hängen lassen: Immer wieder habe er in den letzten Jahren Jobs angenommen, als Maler und Anstreicher, als Lagerist, erzählt er. Doch trotz der Förderung für Firmen, die Behinderte einstellen, sei es schwierig gewesen, dauerhaft Arbeit zu finden. „Die Firmen streichen das Geld ein, aber wenn diese Zulage nach zwei, drei Jahren ausläuft und die Festanstellung ansteht, wirst du entlassen“, so Richters Erfahrung.
Mit der Ausbildung hoffte er dieser Tristesse zu entkommen – nicht ganz zu Unrecht. Männliche Erzieher werden händeringend gesucht in Berlin. Das bestätigt auch Dörte Springer von Sinneswandel. „Noch viel mehr gilt dies für muttersprachliche Gebärdensprachler wie Marian“, ergänzt Gawenda. Schließlich hätten gehörlose Kinder heute ein Recht auf eine zweisprachige Erziehung – sowohl in Gebärdensprache als auch in Deutsch als Schriftsprache.
Und natürlich haben Gehörlose auch ein Recht auf freie Berufswahl. So müsse der Staat die Schulbegleitung für jeden Gehörlosen gewährleisten, erklärt Dörte Springer von Sinneswandel. „Aber Probleme mit Arbeits- und Sozialamt gibt es bei jedem zweiten Fall, sie weigern sich schlicht, die Begleitung zu bezahlen.“ Auch bei Richter gab es ein monatelanges Hickhack, bevor schließlich das Sozialamt die Kosten für die Schulbegleitung übernahm, weil das Jobcenter sich für nicht zuständig erklärte.
Bei der Frage des Lebensunterhalts schlug die anfängliche Unterstützung durch die Jobcenter-Mitarbeiterin ebenfalls schnell ins Gegenteil um. Ende April, erzählt Dörte Springer, hieß es auf einmal, Richter müsse Bafög beantragen. Das sei zwar schwierig, weil er bereits eine Ausbildung habe, aber es gebe Härtefallregeln beim Bafög-Amt. „Beim Bafög-Amt wiederum waren sie zwar nett, aber sagten gleich, es könne Probleme wegen seines Alters geben“, so Springer weiter.
Tatsächlich wurde Richters Bafög-Antrag Ende August abgelehnt, weil er zu Beginn der Ausbildung bereits älter als 30 Jahre war. Schon vorher, Anfang Juli, bekam er vom Jobcenter einen „Aufhebungsbescheid“ – wegen der anstehenden Ausbildung könne er keine Leistungen mehr nach Sozialgesetzbuch II – Hartz IV – erhalten. Richter legte Widerspruch ein – erfolglos. Auch ein Antrag auf Zuschuss zu Unterkunft und Heizung wurde abgelehnt, berichtet Springer. Begründet wurde dies damit, dass sein Antrag auf Bafög abgelehnt worden sei – und er somit auch keinen Zuschuss zu selbigem bekommen könne. Ein Antrag auf Einzelfallprüfung und eine erneute Beantragung von Hartz IV liefen ebenfalls ins Leere.
Jobcenter verweist auf die Gesetzeslage
Das Jobcenter selbst bedauert „die aktuelle Situation von Herrn Richter“ in einer schriftlichen Stellungnahme, die der taz vorliegt. Leider lasse die derzeitige Gesetzeslage keine andere Entscheidung zu – „auch unter Abwägung des Einzelfalls“. Denn da die geplante Ausbildung grundsätzlich förderungsfähig mit Bafög ist, kämen Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II, also Hartz IV, dafür nicht infrage – unabhängig davon, ob der Bafög-Antrag des Betreffenden erfolgreich sei oder nicht. Außerdem habe Herr Richter nicht die Voraussetzungen für eine Erzieherausbildung. Und ob er die mit der Ausbildung zum Sozialassistenten schaffe, „kann derzeit nicht eingeschätzt werden“. Mit anderen Worten: Das Jobcenter zahlt die Ausbildung nicht, weil es nicht weiß, ob Richter sie durchhält und erfolgreich besteht.
Das könnte sich als selbst erfüllende Prophezeiung erweisen. Richter lebt seit fünf Monaten ohne eigenes Einkommen, auf Kosten der Freundin. Vor lauter Stress habe er Tinnitus bekommen, erzählt er, die Beziehung sei belastet, die Unsicherheit, wie es weitergehen soll, zermürbe ihn. „In der Schule, auf die ich mich so gefreut habe, kann ich mich gar nicht konzentrieren. Ich kann gar nicht lernen.“ Die Ausbildung, so viel steht für ihn fest, kann er ohne finanzielle Unterstützung nicht durchhalten. Dann also wieder Hartz IV.