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Archiv-Artikel

Vorgezogenes Finale

Jeden schweren Brocken, den ihm das Schicksal in den Weg legte, verwandelte er mit leichter Hand in Kunst, und so war es kein leichtes Schicksal für das Schicksal, es mit einem wie ihm aufnehmen zu wollen: ein Nachruf auf den großen Schriftsteller Robert Gernhardt

„Der Kampf geht weiter – für das gute komische Gedichtin der Welt“

von KLAUS C. ZEHRER

Als vor zwei Jahren sein Band „Die K-Gedichte“ veröffentlicht wurde, Gedichte, in denen er seine Krebserkrankung aufarbeitete, bekam ich zahlreiche besorgte Anfragen: Ob es denn wirklich so schlimm um Robert Gernhardt stehe? Ich konnte beruhigen: Die Gedichte waren alle bereits 2002/ 2003 entstanden, in der Zwischenzeit hatte eine Chemotherapie gute Dienste geleistet, die Krankheit galt zwar nicht als besiegt, aber doch unter Kontrolle, der Patient nicht als geheilt, aber als stabilisiert. Es sah ganz danach aus, als ginge die Geschichte ähnlich aus wie damals, 1996, als Gernhardt sich einer schweren Herzoperation unterziehen musste – das Resultat war der preisgekrönte Gedichtzyklus „Herz in Not“.

So war es immer mit Gernhardt: Jeden schweren Brocken, den ihm das Schicksal in den Weg legte, verwandelte er mit leichter Hand in Kunst, und das Schicksal musste sich eine neue Schikane ausdenken, die Gernhardt sofort wieder als Inspirationsquelle nutzte. Kein leichtes Schicksal für das Schicksal, es mit so einem aufnehmen zu wollen. Auch die in den K-Gedichten aufgeworfene Frage: „Packt Mann den Krebs? Packt Krebs den Mann?“ schien vorentschieden: Gernhardt hatte es wohl wieder einmal gepackt. Einziges äußerliches Anzeichen der Chemo war eine beträchtliche Gewichtsabnahme, die zu der Erwägung führte, einen Artikel für die Brigitte zu schreiben: „Die Krebs-Diät – der schnellste Weg zur Traumfigur“. Zudem stellten wir gut gelaunt Prognosen, wie wohl Gernhardts nächstes Gebresten, ergo sein nächster Gedichtband heißen würde: „Die Alzheimer-Gedichte“? Und als Almut, seine Frau, beim Abendbrot warnte: „Robert, schneid die schwarze Brotrinde ab, davon kann man Krebs kriegen“, da gab er fröhlich zurück: „Kann mir nicht passieren, ich hab ja schon Krebs!“ Und biss herzhaft zu, er, der Unverwundbare, der über das Wundermittel gegen alle Unzumutbarkeiten des Lebens verfügte: Witz.

Vor ein paar Monaten änderte sich die Lage. Der Tumor hob den Waffenstillstand zwischen Krebs und Mann einseitig auf. Wieder Infusionen, mit wechselnden Mitteln, in zunehmender Frequenz und mit abnehmendem Erfolg. Gernhardt ertrug die Belastung mit bewundernswerter Gemütsruhe. Es bedeute ihm viel, sagte er, dass er sich nicht vorwerfen müsse, seine Zeit ohne Malaisen ungenutzt gelassen zu haben. In der Tat: Wer ein solches Werk vorzuweisen hat, kann Fragen der Sterblichkeit und Unsterblichkeit mit anderen Augen betrachten. Und als ihm seine Ärzte eröffneten, sie hätten nichts mehr in der Hinterhand, ihm blieben noch drei bis sechs Monate, dankte er ihnen für die klare Ansage. Immerhin konnte er damit rechnen, halbfertige Arbeiten abschließen, offene Projekte delegieren, einen geregelten Abschied nehmen zu können. Das war am 6. Juni.

In unseren letzten Telefonaten sprach er von seiner Unschlüssigkeit, wie er die verbleibende Zeit und die schwindenden Kräfte nutzen solle: Eigentlich sei jetzt jede Stunde kostbar und unwiederbringlich und müsse den letzten Dingen gewidmet werden– andererseits sei da ja noch die WM, die schließlich auch weggeguckt werden müsse. Ich berichtete ihm von der guten Stimmung auf der Berliner Fanmeile: Hunderttausende überwiegend junger Menschen, die sich in bester Feierlaune unter freiem Himmel versammeln – es sei quasi wie beim Weltjugendtag, nur mit Fußball und ohne Papst. Also viel besser als der Weltjugendtag, resümierte Gernhardt, und ich war erleichtert, dass er nicht noch auf den letzten Drücker katholisch wurde. Oder hätte ich seine Beobachtung, an seinen Händen hätten sich Wundmale wie bei Jesus gebildet, als Bekehrung deuten sollen? Gewiss nicht. Es war eher das Zeichen seiner Neugier, die ihn bis in seine letzten Stunden nicht verlassen hat. Sein Staunen über die Wunder der Welt hörte nie auf. Nur, dass das bestaunte Wunder nicht mehr, wie in seinen strengchristlichen Kindertagen, aus Wasser bestand, das in Wein verwandelt wurde, sondern aus Wasser, das sich infolge Leberversagens in seinen Beinen sammelte. Am vergangenen Mittwoch sprachen wir uns zum letzten Mal. Eigentlich wollte ich nur mein Kommen ankündigen, wir hatten vereinbart, dass ich ihm bei der Fertigstellung eines Buchs helfe. Er musste den Besuch absagen, es ging nicht mehr, sein Zustand hatte sich seit Sonntag rapide verschlechtert, die ärztliche Prognose von drei bis sechs Monaten war zu optimistisch gewesen. Er sprach vom unfassbaren Glück, einen so unglaublichen Menschen wie Almut bei sich zu haben, gerade jetzt, da er die Fackel weitergeben müsse an die Jüngeren. „Der Kampf geht weiter, Robert.“ – „Der Kampf geht weiter, Klaus – für das gute komische Gedicht in der Welt und gegen das schlechte.“

Das waren die letzten Worte, die ich von ihm vernommen habe. Ich kam nicht mehr dazu, zu fragen, wie sie zu verstehen seien: als Ermutigung, weiterhin Gedichte zu schreiben, oder als Rat, es bleiben zu lassen. Zwei Tage später starb Robert Gernhardt, wenige Stunden vor Anpfiff der Viertelfinalpartie Deutschland gegen Argentinien, einem Spiel von so enormer Bedeutung, dass es in der Vorberichterstattung der Medien als „vorgezogenes Finale“ bezeichnet wurde.

Klaus Cäsar Zehrer, 36, hat gemeinsam mit Robert Gernhardt die Anthologie „Hell und Schnell. 555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2004) herausgegeben