Den Ideen einen Körper geben

KARMAKAR LESEN Ein Randgänger aus Überzeugung ist der Filmemacher Romuald Karmakar. Zwei Bücher sind über ihn erschienen, die den Geschichtsforscher im Regisseur und seine enorme Neugierde auf die Welt zeigen

Möller setzt sich seit anderthalb Jahrzehnten mit der Biografie und dem Werk Karmakars auseinander

VON DIETMAR KAMMERER

Romuald Karmakar ist eine Randfigur der hiesigen Filmlandschaft, einer, der die meisten seiner Filme aus der eigenen Tasche finanziert hat. Über ihn sind zwei Bücher erschienen, die zu unterschiedlichen Resultaten kommen: „Bilder hinter den Worten“ von Tobias Ebbrecht (Verbrecher Verlag, Berlin 2010) und „Romuald Karmakar“ (Synema, Wien 2010), herausgegeben von Olaf Möller und Michael Omasta. Schon wenn man die beiden Publikationen nebeneinanderlegt, fällt die Differenz ins Auge. Ebbrechts Text ist ein kompakter Essay von rund einhundert Seiten mit einem typografischen Titel, während Möllers/Omastas voluminöse Sammlung von Texten, Interviews, Archivmaterial und Fotografien ein großformatiges Porträt von Karmakar ziert. Der Synema-Band verspricht Karmakar pur als innige Begegnung zwischen Leser und Regisseur. Ebbrechts Buch verzichtet (auch im Inneren) auf Abbildungen und sucht „die Bilder hinter den Worten“, in der Erklärung durch die Worte.

Beide Publikationen beschreiben den Filmemacher als Außenseiter. Karmakar, geboren 1965 in Wiesbaden als Sohn einer französischstämmigen Mutter und eines iranischen Vaters, aufgewachsen in Athen, Abitur in München, dreht seine ersten Filme Mitte der 1980er Jahre auf Super 8. Mit der Satire „Eine Freundschaft in Deutschland“ wird er über einen engeren Kreis hinaus bekannt. Karmakar erzählt darin in pseudodokumentarischem Stil die heiteren Jugendjahre von Adolf „Adi“ Hitler (dargestellt von Karmakar selbst) in München. Der Münchner Regisseur Herbert Achternbusch sieht den Film und Karmakar wird bei ihm Regieassistent. Seither hat er mehr als zwanzig kurze, mittlere und lange Filme gedreht. Er wird zu den Wettbewerben der großen Festivals eingeladen und mit Preisen bedacht. Das Feuilleton steht (meistens) auf seiner Seite.

Doch der großen Produktivität und Anerkennung zum Trotz bleibt er ein Außenseiter, der Dokumentarfilme, Spielfilme und Filme dreht, die in keine der beiden Kategorien passen. Der Autodidakt Karmakar macht Film, in jedem Format, das ihm dazu geeignet scheint, ob auf Zelluloid, auf Video oder digital. „Cinekarmakar“ heißt sein eigener YouTube-Kanal, und was dort zu zu sehen ist, ist für sein Werk genauso relevant wie seine Produktionen für die Leinwand.

Ebbrecht zeichnet Karmakar folglich als einen „Filmemacher im Zwischenraum“ und nennt Brecht, Murnau, Lang, Piscator und Reinhardt als dessen Paten. Die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte – einer Geschichte, zu der Karmakar sich zugehörig fühlt, die ihm aber auch fremd ist – steht für Ebbrecht im Mittelpunkt dieses Werkes. Er weist nach, dass Karmakar nicht nur in Filmen wie „Himmler Projekt“ oder „Land der Vernichtung“ die deutsche Vergangenheit thematisiert, sondern auch in Spielfilmen wie „Manila“ oder „Die Nacht singt ihre Lieder“. Karmakars Methode sei dabei die der „Re-Konkretisierung, die aus der Gegenwart einen Zugang zur Vergangenheit sucht, die wie jede Vergangenheit unmittelbar überhaupt nicht erfahrbar ist“. Der Filmemacher als Geschichtsforscher.

Ebbrecht belegt jede seiner Thesen mit Beispielen und Filmszenen. Genau das aber ist problematisch: Im akademischen Zugriff werden Filmszenen immer wieder zu Beweismitteln, also zu Mitteln zum Zweck. Was nicht ins Raster passt, bleibt ungenannt; Karmakars Filme über Techno und Clubkultur etwa werden nur am Rande erwähnt. Das Zielpublikum: Film- und Geschichtswissenschaftler.

Zudem legt Ebbrecht eine Neigung an den Tag, Karmakars Filme einseitig als „schmerzlich“, „unerträglich“ oder gar „unvorstellbar“ für den Zuschauer zu charakterisieren – als wäre das ein Wert an sich. Bei Möller und Omasta hingegen lernt man, dass Karmakars Filme ebenso oft auch listig, mitunter bösartig satirisch sind, angetrieben von einer enormen Neugierde auf die Welt, von der Suche nach Schönheit oder einem ekstatischen Moment. Hier ist Karmakar ein Randgänger aus Überzeugung, der weiß, dass man nur von dieser Position aus das Wesentliche erkennen kann: was die Menschen in Bewegung hält, wie sich der Einzelne zur Masse verhält und umgekehrt.

Neben einem ausführlichen Essay von Olaf Möller enthält der Band eine detailliert kommentierte Filmografie sämtlicher Werke sowie ausgewählte Texte, Notizen und Zeitungsartikel von Karmakar selbst, dazu Drehbuchentwürfe nicht realisierter Filme. Die wuchtige Text- und Materialsammlung erhebt den Anspruch, der definitive Kommentar zu einem „der bedeutendsten bundesrepublikanischen Filmemacher der letzten drei Dekaden“ zu sein.

Möller setzt sich als Filmkritiker seit rund anderthalb Jahrzehnten mit der Biografie und dem Werk Karmakars auseinander. Jetzt gibt er all sein Wissen wieder und man merkt jeder Seite des Buchs an, dass man hier auch einer Begegnung zwischen Kritiker und Filmemacher beiwohnt. In einer berühmt gewordenen Szene läuft Karmakar in der Dokumentation „Land der Vernichtung“ in brütender Hitze die Längsseite des Todeslagers Majdanek ab und zählt dabei jeden seiner mehr als tausend Schritte. Möller zählt mit – und registriert jeden Atmer, jeden Aussetzer, jeden Kameraschwenk. „Hier schreitet einer aus, verleiht durch sein Gehen, sein Zählen, sein eigenes Sich-Erschöpfen, Sich-Auslaugen dieser Idee einen Atem, eine Körperlichkeit“, vermerkt Möller. Dasselbe könnte man auch über den kommentierenden Text sagen, so nahe und anschmiegend folgt er den Entwicklungen des Karmakar’schen Kinokosmos.

Möller würdigt auch kleine, scheinbar nebenbei entstandene Filme. Der Kurzfilm „Die Nacht von Yokohama“ ist so einer, entstanden 2002 am Ende der Fußball-WM in Japan und Korea. Deutschland unterliegt in einem freudlosen Finale Brasilien mit 2:0. Karmakar geht spontan mit der Videokamera auf die Straße und filmt Menschen, die sich selbst feiern, ihre Fußball-Elf und die Tatsache, Zweiter geworden zu sein. Nichts gewöhnlicher als das, möchte man (zumal in diesen Tagen) meinen. Aber: Eine Erinnerung daran, welche Ausmaße bereits vor dem Sommermärchenjahr 2006 nicht nur das Public Viewing, sondern vor allem die Public Selbstfeierei angenommen hat. Und ein Paradebeispiel für die katalysatorische Macht der Kamera und was sie in Leuten auslöst, die weniger ihre Begeisterung als ihren Selbstgenuss zur Schau stellen.

■  Tobias Ebbrecht: „Bilder hinter den Worten. Über Romuald Karmakar“. Verbrecher Verlag, Berlin 2010 ■  Olaf Möller, Michael Omasta (Hg.): „Romuald Karmakar“. Österreichisches Filmmuseum/Synema, Wien 2010