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Archiv-Artikel

Mehrere Spiele in einem einzigen

Hoffentlich wird’s nicht wieder so verrückt: 1970 und 1971 prägten die deutsch-italienische Fußballgeschichte. Ein kurzer Rückblick

BERLIN taz ■ Die Jahre 1970 und 1971 brachten die Höhepunkte der deutsch-italienischen Fußballgeschichte. Mannschaften und Systeme trafen hart aufeinander. Zunächst bei der WM in Mexiko. Am 17. Juni 1970 kam es im Azteca-Stadion von Mexiko-Stadt zum Halbfinale Italien gegen Deutschland, das als „das Spiel des Jahrhunderts“ in die Geschichte eingehen sollte.

Diese Begegnung hinterließ in der Fußballwelt deshalb einen solch bleibenden Eindruck, weil es gleich mehrere Spiele beinhaltete, wie der Mailänder Psychologe Gianluca Bocchi analysiert: „Es fanden zumindest zwei Spiele statt, auch wenn nicht völlig klar ist, wann das erste aufhörte und das zweite anfing.“ Schnell ging Italien durch Roberto Boninsegna in Führung und begann erwartungsgemäß zu mauern. Erst in der 89. Minute gelang Schnellinger der Ausgleich. Die Verlängerung startete mit einem Eigentor von Poletti, dem das 2:2 durch Burgnich folgte, das 3:2 durch Riva, das 3:3 durch Müller und das 4:3 durch Rivera. Eine der „überraschendsten, dichtesten und intensivsten Torsequenzen der gesamten Fußballgeschichte“, wie Bocchi feststellt. Es war das einzige Spiel in der WM-Geschichte, in dem fünf Tore in der Verlängerung erzielt wurden.

Faszinierend war aber vor allem das Aufeinandertreffen zweier grundverschiedener Ideen: das „Nie Aufgeben“ der Deutschen und das „Vom Staub in den Olymp“ der Italiener, die in Mexiko endgültig ihre ewig negative Grundeinstellung, der „Prototyp eines perfekten Verlierers“ zu sein, überwanden. Nach diesem Kampf mit einem scheinbar unbesiegbaren Gegner waren Riva, Rivera, Mazzola, Facchetti zu Fußballgöttern geworden. Die Italiener hatten nicht nur das Spiel gewonnen, sondern auch die Herzen der Deutschen – und zwar für mindestens hundert Jahre, wie man in diesem pathetischen Moment glaubte. Dass eine Jahrhundertliebe allerdings nur ein Jahr dauern kann, mussten die Fußballfans nach der WM erfahren, als es am 20. Oktober 1971 zum „Büchsenwurf vom Bökelberg“ kam. Im Europapokal der Landesmeister spielte Borussia Mönchengladbach das Weltklasseteam von Inter Mailand an die Wand. Es war wohl Günter Netzers bestes Spiel, und die Borussia hätte mit dem 7:1 einen Jahrhundertsieg errungen, wäre nicht in der 30. Spielminute Roberto Boninsegna von einer Cola-Dose, die ein Fan angeblich von der Tribüne geworfen hatte, am Kopf getroffen worden. Boninsegna wälzte sich theatralisch am Boden und wurde ausgewechselt. Die Uefa annulierte das Ergebnis und setzte ein Wiederholungsspiel im Berliner Olympiastadion an, das Inter 4:2 gewann – fortan galten in Deutschland alle italienischen Fußballer als melodramatische Schauspieler, die für den Sieg lügen und betrügen würden.

Gern sahen sich die Deutschen als Opfer und vergaßen dabei, dass es ein deutscher Fan gewesen sein muss, der die Büchse warf. Für alle Beteiligten jedoch stand das dramatische Geschehen diesmal unter dem Motto: „Vom Olymp in den Staub“. Bei allen internationalen Einflüssen auf den deutschen Fußball war der italienische immer der beständigste, auch wenn das Verhältnis meist von Emotionen beherrscht wurde: Die anfängliche Herablassung der Deutschen gegenüber den Südländern; die spätere Verklärung des deutsch-italienischen Fußballs als vermeintlicher Antagonismus aus „Solidität“ und „Intuition“; oder die Bewunderung für die italienische Effizienz.

Letztlich hat gerade die Dominanz des Irrationalen die angeblich so rationalen Deutschen entscheidend beeinflusst. Wenn die Italiener mit verblüffender Leidenschaft eine komplett unwichtige Angelegenheit wie das Fußballspiel betrieben, dann lernten die Deutschen daraus eins: Erst im Spiel und damit der unernsten Seite des Lebens gewinnt der Mensch seine Humanität. Durch die italienische Lebensart wurden die Deutschen also auch ein wenig humanisiert. MICHAEL RINGEL