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Archiv-Artikel

Wenn Eltern psychisch krank werden

Eltern-Kind-Behandlung in der Psychiatrie etabliert sich in Deutschland nur langsam, weil die Kassen sie nicht zahlen. Dabei sind sie eine Erfolgsstory

Unter einem bunten Clown aus Samt liegt ein kleines Mädchen und starrt daumennuckelnd in die Luft. Die Kleine ist gerade drei Monate alt und kann hinreißend lachen. Außerdem schreit sie wenig – für ihr Alter. Süß, sagen alle, ein perfektes Baby. Nur die Mutter weint den ganzen Tag. Fühlt sich leer, ausgebrannt, überfordert. Der Alltag mit dem Kind ist die Hölle. Das Baby will essen und schmusen, frische Windeln und Milch trinken – auch nachts. Die Mutter schafft es kaum noch, sich morgens zum Aufstehen zu motivieren. Warum das Kind schreit, weiß sie nicht. „Ich bin eine schlechte Mutter“, sagt sie von sich. „Ein schlechter Mensch, eigentlich kann ich es gleich lassen, ich schaff das nicht.“

In Deutschland leidet jeder Vierte unter Depressionen. Tendenz: steigend. Die neuesten Statistiken der Krankenkassen zeigen deutlich: Psychische Krankheiten nehmen zu, körperliche Krankheiten nehmen ab. Sie sind trotzdem ein Tabu, peinlich vor Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunden. Wie kann es sein, dass jemand mit so einem süßen Baby nicht auf der berühmten Wolke Sieben schwebt?

„Für Eltern ist es noch schwieriger, sich psychiatrische Behandlung zu suchen“, sagt Doris Arens. „Die meisten wissen auch nicht, dass es auch in Nordrhein-Westfalen zumindest ein paar Plätze für Eltern mit Kindern gibt.“ Die 41-Jährige arbeitet seit zwanzig Jahren als Krankenschwester in Psychiatrien. Auch sie strahlt das kleine runde Mädchen unter dem Samtclown an. Sie weiß aber auch, dass manche Eltern nicht so reagieren. Nicht, weil sie „schlechte Mütter“ sind, sondern weil sie erkrankt sind. Manchmal so stark, dass sie eine stationäre Therapie brauchen.

Wie Frau A. Sie hat sich in der psychiatrischen Tagesklinik Alteburger Straße in der Kölner Südstadt verliebt. Während der Therapie. In einen Mitpatienten. Eigentlich hatte Frau A. einen depressiven Schub. Frisch verliebt erledigte sich die Depression. Die beiden heiraten und kriegen ein Jahr später ein Kind. Kurz nach der Geburt stürzt Frau A. in schwere Depressionen. Ohne jegliche Mimik sitzt sie in der Ambulanz „der Alterburger“, sie spricht mit niemanden ein Wort. Dann fragt der Stationsarzt: „Sie vermissen Ihre Kleine wohl sehr?“ Frau A. schafft ein „Ja“ und sogar ein Lächeln. Der Arzt entscheidet spontan: Das Baby, gerade ein paar Wochen alt, wird mit aufgenommen.

Das war 1983. „Wir Pfleger waren geschockt“, sagt Doris Arens. „Was ist, wenn die Frau das Kind aus dem Fenster wirft? Schaffen wir es, uns im Klinikalltag um ein Baby zu kümmern? Was werden die anderen Patienten dazu sagen?“

Fragen, die sich im Laufe der Zeit von selber lösten. „Die Frau fühlte sich mit ihrem Kind besser, das hat sich logischerweisen auch auf die Behandlung ausgewirkt“, sagt Doris Arens. „Und das süße Kind hat den Pflegern viel Spaß gemacht, und auch die Mitpatienten waren begeistert vom neuen Mitbewohner.“

Ein Anfang. Immer wieder nimmt die allgemeinpsychiatrische Kölner Klinik Eltern mit Kindern in ihre offene Station E auf. „Das wurde dann so intuitiv gehandhabt“, sagt Ellen Görgen, die hier wie Doris Arens als Krankenschwester arbeitet. Beide Frauen haben daran mitgearbeitet, dass die Eltern-Kind-Behandlung auf Station E die Regel bleibt und ein System kriegt. Über die Arbeit an einer Methode, die sich nur langsam in Deutschland etabliert, haben sie jetzt ein Buch geschrieben.

55 psychiatrische Kliniken bieten bundesweit Eltern-Kind-Behandlung an, schätzt die Forschungsgesellschaft Marcé. Die wenigsten bieten mehr als fünf Therapieplätze mit Kind an. Auch „die Alteburger“ nimmt nur drei Kinder zwischen bis drei Jahren gleichzeitig auf, die Warteliste ist randvoll. „Mehr schaffen wir schlicht nicht“, sagt Ellen Görgen. Denn: Die Krankenkassen zahlen nichts für die Kinder, die schließlich nicht die Patienten sind. „Wir schichten Arbeit und Geld so um, dass es klappt“, sagt Ellen Görgen. „Mehr Plätze gehen leider nicht.“

Seit 1996 hat die Station E ein ausgearbeitetes Behandlungskonzept, entstanden aus Erfahrungen, Diskussionen und dem Blick in andere europäische Länder. Den gesamten Entstehungsprozess, Probleme und Chancen der therapeutischen und vor allem der pflegerischen Arbeit haben die beiden Krankenschwestern aufgeschrieben. „Damit andere Kliniken uns das nachmachen“, sagt Doris Arens.

Obwohl es viel Arbeit ist. Denn: „Wir wollen Angeln lehren, statt Fisch servieren“, erklärt die Krankenschwester die zentrale Philosophie ihrer Eltern-Kind-Behandlung. Und eine, die vor allem die PflegerInnen betrifft, denn die begleiten den Alltag ihrer Patienten. „Die Frauen haben ein sehr schlechtes Bild von sich als Mutter“, sagt Doris Arens. „Das ist entweder ein Teil oder eine Folge ihrer Krankheit. Hier sollen sie lernen, wie sie den Alltag mit Kind meistern.“ Wenn Frau E. es nicht schafft, ihr Kind zum Schlafen zu bringen, darf die Pflegerin es nicht beruhigen – auch wenn das Baby bei ihr immer nach fünf Minuten friedlich schläft. Sie muss stattdessen Frau E. davon überzeugen, dass sie das auch schafft und ihr helfen, selber wieder zur Ruhe zu kommen.

Während der Therapiesitzungen werden die Kinder von einer Tagesmutter betreut. In die Therapie werden auch die Partner einbezogen. „Wir würden auch Väter mit Kinder aufnehmen, das ist aber noch nicht vorgekommen“, sagt Ellen Görgen. Während des gesamten Klinikaufenthalts sind in erster Linie die Mütter für die Kinder zuständig. „Wir helfen nur“, sagt Doris Arens.

In zahllosen Fallbeispielen schildern die Krankenschwestern die Behandlung aus Pflegesicht. Im Mittelpunkt steht hier weniger die Diagnose als die Alltagssituationen, die aus der psychischen Erkrankung entsteht: Eine Frau, die ihre Bedürfnisse permanent zurückstellt, sich nach der Geburt nachts den Wecker stellt, um die Fenster zu putzen, bis sie zusammenbricht. Sie will auch in der Klinik das Kind nicht zur Tagesmutter geben, macht mehr in der Küche als alle anderen Patienten – sie muss solange zurückgepfiffen werden, bis sie sich entspannt. Eine andere Mutter beachtet ihr Kind nicht, reagiert nicht, wenn es die anderen Patienten stört. Sie muss permanent auf die Bedürfnisse des Kindes aufmerksam gemacht werden, bis sie sich wieder aufrafft. „Der Alltag ist Teil der Therapie“, folgern die Autorinnen deshalb. Verständlich und knapp geschrieben liefern sie aber auch auch den theoretischen Hintergrund der verschiedenen Komponenten des Behandlungskonzeptes und der Eltern-Kind-Beziehung allgemein.

„Die Elternrolle gehört untrennbar zum kranken wie auch zum gesunden Elternteil“, sagt Ellen Görgen. „Dass Eltern-Kind-Behandlung erneuten Erkrankungen und auch einer Schädigung der Kinder vorbeugt, hat die Praxis längst bewiesen. Die meisten Mütter müssen nie wieder zu uns kommen.“

Doris Arens und Ellen Görgen: Eltern-Kind-Behandlung in der Psychiatrie. Ein Konzept für die stationäre Pflege. Psychiatrie-Verlag, 2006: 160 Seiten.