: Die kleine Gier kommt bestimmt
Das wohl organisierte Kollektiv Italien ist nach dem grandiosen Halbfinalerfolg gegen Deutschland jetzt Final-Favorit
DORTMUND taz ■ Dortmund war Deutschland. Dortmund war in ohnehin tropischer Schwüle ein Vulkan, eine unermüdliche Lärmwalze andauernder Choräle, und das, obwohl das deutsche Team das Tor nicht traf. Italiens Routiniers war das egal: Sie haben der giftigen Atmosphäre in jeder Sekunde mit Eiseskälte getrotzt, peinlichen Dortmunder Fangesängen wie „Kurze Beine, kleine Genitalien – scheiß doch auf Italien“ sowieso.
Die Squadra Azzurra 2006 ist ein tolles Kollektiv großer Organisation. Alle sind voller Defensivgift und gleichzeitig auch in Bedrängnis ballsouverän. Die Abwehr erinnert an ein langsam pulsierendes Herz, das sich zusammenzieht bei Gefahr und bei Ballbesitz sofort aufpulsiert. Fabio Cannavaro, der Abwehrgnom von 1,75 Metern, steigert sich unfassbarerweise von Spiel zu Spiel weiter und springt wie mit Federn statt Stollen unter den Schuhen. Andrea Pirlo war „in diesem unheimlich emotionsgeladenen Spiel“ der Prellbock vor der Abwehr und ist gleichzeitig ein gerissener Spieleröffner. Zwei Spieler in einem quasi, und diesem virtuellen Duo ist „ein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen“: ab ins WM-Finale am kommenden Sonntag in Berlin.
Der Traum kann nach normaler Logik nur mit dem Titel enden. Italien hat sich nach lethargischem Turnierstart von Spiel zu Spiel gesteigert. Eine Entwicklung, die erfahrungsgemäß Früchte trägt, falls die Akteure den Triumph über die Gastgeber innerlich nicht als vorzeitiges Nonplusultra verarbeiten.
Trainer Marcelo Lippi sagte: „Es wäre ungerecht gewesen, wenn wir nicht gewonnen hätten. Das kann keiner anzweifeln, auch kein Deutscher.“ Außer dem trotzigen Lukas Podolski („Wir hatten die besseren Chancen“) tat das auch niemand aus der hingebungsvollen deutschen Elf angesichts zweier Alutreffer der Azzurri und banaler statistischer Daten wie 57 Prozent italienischen Ballbesitzes, zehn Schüssen statt zwei in Richtung Tor und 12:4 Ecken.
Lippi konnte frohlocken, er hatte alles richtig gemacht: Er wechselte spät frische Offensivkräfte ein, anders als der Kollege José Pekermann aus Argentinien, der mit seinem Verwaltungsfußball unterging. Lippi ist auch nicht der Legende von übermäßigen Kräften der Deutschen nach deren intensivem Vorbereitungstraining aufgesessen. Sein Team hatte in der Verlängerung auffällig mehr Luft.
Deutschland, das Land der karnevalistischen Selbstberauschung, war zu Recht stolz, dagegengehalten zu haben. Der eingewechselte Torschütze Alessandro Del Piero aber sagte: „Wir waren gierig zu gewinnen.“ Ein kleiner Unterschied, dem ein wenig Wahrheit innewohnte. Und Angreifer Luca Toni konnte zwar die bildungsbürgerliche Anfeuerung seiner Fans mit dem Plakat „Veni, Vidi, Toni, Vici“ nicht mit einem Tor krönen, war aber trotzdem begeistert: „Vor solch einem feindlichen Publikum zu gewinnen erzählt man einmal seinen Enkeln. Jetzt wollen wir den Titel.“ Marcelo Lippi schaute schon auf Sonntag angesichts der vielen überragenden Spieler im Kader: „Wir haben viele Pfeile im Köcher.“ BERND MÜLLENDER