Das Vorspiel zu wahren Triumphen

Trainernovize Klinsmann und sein junges Team haben die erste Reifeprüfung mit Bravour bestanden. Aber folgen auf die Euphorie weitere Erfolge?

STUTTGART taz ■ Um zwei Uhr nachts sollte die Party in Stuttgart eigentlich vorbei sein. Doch tausende Fans feierten noch immer auf dem Schlossplatz und der Theodor-Heuss-Straße, als die ersten Müllfahzeuge der städtischen Straßenreinigung für Ordnung sorgen wollten. Der 3:1-Sieg im Spiel um den dritten Platz bei dieser Weltmeisterschaft machte die Abschlussfete der deutschen Fans noch einmal zu einem schwarzrotgoldenen Karneval. Jürgen Klinsmann war „einfach nur happy“, Philipp Lahm „very happy“ und der zweieinhalbfache Torschütze des Abends, Bastian Schweinsteiger, fand alles „unglaublich“.

Letzterer stimmte in die Jubelgesänge der Fans ein, die sofort nach der Niederlage gegen Italien T-Shirts mit dem Aufdruck „1954 – 1974 – 1990 – 2010“ übergestreift hatten. „Wir sind eine junge Mannschaft, ja“, sagte Schweinsteiger, „und bald kommt die EM, aber wir müssen uns erst einmal qualifizieren.“ Die Drucksituation einer Qualifikation kennt er noch nicht. Wird er ihr standhalten? Er hat erst dann überzeugt bei dieser WM, als es um nicht mehr allzu viel ging. Die Rolle als Heilsbringer im offensiven Mittelfeld ist noch ein wenig zu groß für ihn. Dass er bei den Bayern in internationalen Spielen oft nur Ersatz ist, wundert nach dieser WM kaum mehr jemanden.

„Wir können und müssen alle noch viel lernen“, so Schweinsteiger selbstkritisch. Auch ein Lukas Podolski ist ein Nachwuchsspieler, der erst beweisen muss, ob er als Star wirklich taugt. Als Kapitän und Alleindarsteller im Angriffssystem des 1. FC Köln wirkte er bisweilen überfordert. Und David Odonkor? Der wird auch einmal mehr sein müssen als die von Michael Ballack so bezeichnete „Geheimwaffe“.

Ob Philipp Lahm und Per Mertesacker das Niveau werden halten können, auf dem sie bei dieser WM gespielt haben, wenn sie nicht von der Welle der Euphorie getragen werden, ist ebenfalls ungewiss. Von den koreanischen Laufwundern, die, angetrieben von einer roten Fanarmee, vor vier Jahren ins Halbfinale der WM im eigenen Land eingezogen sind, ist nicht viel mehr geblieben als verblasster Ruhm. Die jungen deutschen Spieler müssen schnell Verantwortung übernehmen. Schon bald wird von Michael Ballack, Torsten Frings und vor allem von Bernd Schneider als „den Alten“ die Rede sein. Wird man den vor der WM ausgemusterten Fabian Ernst mit seiner internationalen Erfahrung brauchen, um das Ausscheiden eines dieser Spieler aus dem Team kompensieren zu können? Wen noch?

Wie es weitergehen wird mit der Nationalmannschaft, hängt sicher überwiegend von Jürgen Klinsmann ab. Doch der wollte sich weder von Angela Merkel, die ihm während der Platz-drei-Zeremonie ein echtes Kanzlerinnenküsschen auf die Wange drückte, noch von Franz Beckenbauer zu einem spontanen „Ja, ich will!“ drängen lassen. Er ließ das Turnier auf seine Weise Revue passieren. Er beschrieb sein Abenteuer Weltmeisterschaft mit leuchtenden Kinderaugen – so als würden Peterchen und seine kleine Schwester von der Fahrt zum Mond berichten. Wenige Meter neben einem Marcello Lippi stehen zu dürfen, das sei für ihn als „jungen Kerl“ etwas ganz Besonderes: „Das sind die Masters of the game!“ Der Trainernovize Jürgen Klinsmann hat eine erste Reifeprüfung mit Bravour bestanden, weil er eine sehr moderne Spielphilosophie vertritt.

Luis Felipe Scolari, Coach der unterlegenen Portugiesen, outete sich als Bewunderer von Jürgen Klinsmann. „Für ihn war der Sieg heute sicher wichtiger als für mich“, sagte er und drückte seine Freude und Anerkennung darüber aus, dass das Ansehen des Bundestrainers in Deutschland mit jedem Spiel größer geworden sei. Der Offensivfußball, den Klinsmann auch gegen Portugal wieder hat vortragen lassen, hat den Brasilianer beeindruckt. Denn dies sei, so Scolari, die Weltmeisterschaft der Defensivreihen gewesen. Klinsmanns Augenmerk auf die Offensive hat da beinahe etwas Anachronistisches. Genau das scheint Scolari gefallen zu haben. Er hat ausgesprochen, was viele denken. Die Mannschaft lebt von Klinsmanns Idee. Was, wenn einer kommt, der eine andere Idee hat?

Die Fans haben sich darüber am Wochenende noch keine Gedanken gemacht. Sie haben den Sieg einer deutschen B-Elf gegen eine der großen Mannschaften des Weltfußballs gefeiert wie das Vorspiel zu wahren Triumphen. Sie haben die WM als ersten Teil eines schmalzigen Heimatfilms mit einem kleinen Happy End wahrgenommen. Noch weit nach drei Uhr morgens zeigten dicke Tränen weinende Mannsbilder in der Stuttgarter Innenstadt, wie sehr sie die deutsche WM-Schnulze ergriffen hat. Sie freuen sich heute schon auf die Freudentränen nach der Schlussszene des WM-Streifens aus Südafrika. Zu früh?

ANDREAS RÜTTENAUER