Die Tour eins nach Ullrich

Junge Fahrer nutzen ihre Chance bei der Tour de France, die ohne Favoriten gestartet ist. Vor allem das Team T-Mobile kann sich erfolgreich von der erdrückenden Last ihres Kapitäns freistrampeln

AUS BORDEAUX SEBASTIAN MOLL

Markus Fothen kann es kaum erwarten: „Ich freue mich auf die Berge, das wird ein tolles Erlebnis“, sagt er zwei Tage bevor die Pyrenäen mit ihren rauen und steilen Bergstraßen endlich das Klassement entrümpeln. Der 24 Jahre alte Radprofi des Rennstalls Gerolsteiner ist eine der großen Überraschungen der ersten Tour-Woche. Vor den ersten Hochgebirgsabschnitten liegt der Neuling auf dem fünften Gesamtrang der Frankreich-Rundfahrt. Dabei, so der gelernte Landwirt aus dem rheinischen Örtchen Karst, habe er „bis jetzt ja noch gar nichts gemacht. Außer ein bisschen Einzelzeitfahren am vergangenen Samstag.“ Da allerdings katapultierte er sich mit seinem siebten Platz in die Weltspitze und in den erweiterten Kreis der Tour-Favoriten.

So erwartungsfroh Fothen am ersten Ruhetag der Tour in Bordeaux war, so gedrückt war indes die Stimmung anderswo. Die Mannschaft CSC etwa, deren Kapitän Ivan Basso wie Jan Ullrich vor dem Tour-Start wegen Dopingverdachts nach Hause geschickt wurde, gab ein Bild des Jammers ab. Zur obligatorischen Pressekonferenz in einem Kongresshotel außerhalb der Weinstadt an der Garonne saßen die Fahrer sichtlich gequält, wortkarg und mit langen Gesichtern vor den Reportern. Bassos Aus hat dem Team jegliche Perspektive und Motivation geraubt. Jens Voigt etwa, sonst ein Spezialist für das Zeitfahren, wurde in dieser Disziplin am Samstag letzter des verbliebenen Fahrerfeldes von 170 Mann.

Nach knapp der Hälfte der Tour de France teilt sich der Tross, der sich nun langsam in Richtung der spanischen Grenzen wurmt, in zwei Teile: in diejenigen, die vom Schock des Dopingskandals so schwer getroffen wurden, dass sie sich wohl in diesen drei Wochen nicht mehr erholen werden. Und in diejenigen, die die geköpfte, von Über-Stars befreite Tour als Chance sehen und nutzen. Erstaunlicherweise gehört ausgerechnet Jan Ullrichs Team T-Mobile zur zweiten Kategorie. Obwohl die Bonner Mannschaft in den rosafarbenen Rennhemden nach der Abreise von Ullrich und Oscar Sevilla nur noch sieben anstatt neun Mann stark ist, war T-Mobile in der ersten Tour-Woche eindeutig die Macht im Feld. Zwei Etappensiege, das Gelbe Trikot für Sergej Gontschar, sechs Mann unter den besten 14: „So stark war in der ersten Woche nicht einmal Armstrongs Team zu seinen besten Zeiten“, konstatierte Team-Chef Olaf Ludwig.

Die Fahrer, insbesondere diejenigen, die Jan Ullrich sehr nahe stehen, erklären die Demonstration der Stärke paradoxerweise mit der Loyalität zu ihrem gefallenen Anführer. „Wir fahren für Jan“, wiederholen gebetsmühlenhaft der Tagessieger von Valkenburg, Matthias Kessler, und Andreas Klöden, der designierte neue Kapitän. Klöden, wie Kessler ein enger Freund Ullrichs, liegt vor den Pyrenäen nur knapp zwei Minuten hinter dem führenden Gontschar und gilt als der beste Bergfahrer der Truppe. Von außen hat es allerdings weniger den Anschein, als würde Jan Ullrich im Geiste mitradeln. Vielmehr sieht es so aus, als habe sich eine junge, talentierte Truppe von einem Joch befreit. Zehn Jahre wurde bei T-Mobile alles und jeder dem zweiten Tour-Sieg von Jan Ullrich unterworfen, der nie stattfand und nun wohl auch nie mehr stattfinden wird. Jetzt dürfen jedoch alle, die sich per Vertrag dem gesponserten Siegauftrag verschrieben haben, zeigen, was sie können. Und das ist offenbar nicht wenig. T-Mobile entdeckt ironischerweise, dass sie Ullrich gar nicht brauchen.

Als Topfavorit vor den Bergen hat sich allerdings weder Klöden positioniert noch die beiden Amerikaner Levi Leipheimer und George Hincapie, denen man hinter Basso und Ullrich vor der Tour am meisten zugetraut hatte. An zweiter Stelle hinter Gontschar, der als Zeitfahrspezialist in den Bergen wohl zurückfallen wird, liegt derzeit Floyd Landis, der Kapitän des Schweizer Phonak-Teams. Landis stammt wie Leipheimer und Hincapie aus der Schule von Lance Armstrong, für den er die Drecksarbeit erledigte, bevor er sich vor zwei Jahren mit dem Texaner zerstritt und das Team wechselte. Ähnlich wie Armstrong 1999, ein Jahr nach dem großen Dopingskandal von 1998, hat Landis das Potenzial, mit seiner Story von den massiven Image-Problemen der Tour und des Radsports abzulenken. Landis hat sich durch dem Radsport aus dem repressiven Leben in der mennonitischen Sekte in Pennsylvania, in der er aufgewachsen ist, frei gestrampelt. Der Tour-Sieg wäre die Krönung dieses Emanzipationsaktes, doch das Schicksal hat ihm dabei schwere Brocken in den Weg gelegt. Landis kämpft Pedaltritt für Pedaltritt mit massiven Schmerzen, die Folgen eines Sturzes vor drei Jahren – kurz nach der Tour wird ihm wahrscheinlich eine künstliche Hüfte eingesetzt.

Die Tour besitzt also wieder alle üblichen Zutaten: schicksalsgeplagte Helden, junge Überraschungsfahrer, gefallene Favoriten, Leiden, Kampf, Dramatik. Und den Generalverdacht, dass das alles nicht mit rechten Dingen zugeht und man keinem der Brüder trauen kann. Jenen Generalverdacht, den man so gerne verdrängt, wenn es spannend wird, der sich aber hartnäckig dagegen wehrt, vom Fahrerfeld abgeschüttelt zu werden.