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Archiv-Artikel

BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN Manchmal fehlen mir die Worte

Die sprachliche Ost-West-Verständigung wird so langsam. Aber nur, weil wir seit 1989 zweisprachig aufwachsen

Wenn Ostler und Westler miteinander reden, klappt es mit der Verständigung mittlerweile halbwegs gut. Die Gespräche scheitern nicht mehr daran, dass die einen Wörter benutzen, die die anderen nicht verstehen. Das liegt natürlich auch daran, dass wir uns anpassen. Aus dem Konsum mit Betonung auf dem o, wo es Waren des täglichen Bedarfs gab oder auch nicht, wurde der Konsum mit Betonung auf dem u. Aus Kunden, Tramper mit Umhängetaschen aus Sofakissen, Jesuslatschen und langen Haaren, wurden Könige. Aus der Gleichberechtigung wurde Alice Schwarzer.

Während eine Reihe von Wörtern eine neue Bedeutung bekommen hat, haben wir auch komplett neue Wörter lernen müssen. Statt Nickies tragen wir T-Shirts, statt Kraxen haben wir Rucksäcke auf dem Rücken, anstelle von Staatsbürgerkunde wird Gesellschaftskunde unterrichtet, Planübererfüllung ist Gewinnmaximierung. Statt nur einer Firma, der Staatssicherheit, gibt es sehr viele Firmen, sodass einige gesundgeschrumpft werden. Waren wir früher von etwas begeistert, hat das gefetzt oder war es urst. Längst ist alles nur noch super.

Man kann sagen, dass wir seit 1989 zweisprachig aufwachsen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel klingt in ihren Reden zwar manchmal so, als sei sie mit Leib und Seele Gruppenratsvorsitzende. „Sie werden sehen, wie viel Freude es macht, wenn man Schritt für Schritt vorangeht. Das kann jeder von uns zu Hause, in der Familie, mit Kindern, in der Schule, am Arbeitsplatz, mit Kranken, mit Behinderten, mit bei uns lebenden Ausländern, in Vereinen, in Selbsthilfegruppen, in Bürgerinitiativen, in Kirchen und vielem mehr.“ Doch immerhin schafft sie es, ihre Brüder und Schwestern im Osten nicht zu verprellen und ihre Wahlverwandtschaft im Westen nicht vor den Kopf zu stoßen. Zumindest wenn sie Entspannung in der Uckermark sucht. Dann spricht sie weder von ihrer Datsche noch von ihrem Wochenendhaus. Dann fährt sie einfach ins Grüne.

Westler aber, die versuchen, unsere Sprache zu sprechen, sollten aufpassen, was sie sagen. So wie Merkels Parteifreund Friedbert Pflüger, ein gebürtiger Hannoveraner, der im September in Berlin Regierender Bürgermeister werden will. Pflüger, ehemals abrüstungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, lebt jetzt „furchtbar gerne im neuen Berlin“. Doch er scheint sich noch nicht wirklich zurechtzufinden in der früher geteilten Stadt. Um die Wähler im Ostteil anzusprechen, setzte er auf den alten Slogan „Arbeite mit, plane mit, regiere mit“. Da fehlen selbst mir die Worte.

Und dann diese englischen Begriffe! Im fakultativen Unterricht an der Polytechnischen Oberschule lernte ich, mich auf eine Tasse Tee samt Zitrone in London vorzubereiten. „I squeezed it and squeezed it, but there came no lemon.“ Ich fand es tröstlich, dass die Zitronen in England anscheinend auch nicht immer die saftigsten waren. Heute brauche ich meine Englischkenntnisse, um im wiedervereinigten Deutschland nicht ganz dumm aus der Wäsche zu gucken: Da soll ich eine gute Performance hinlegen, bei einem Brainstorming mitmachen oder einen Kaffee to go kaufen.

Glücklicherweise ist das Gute an der Zweisprachigkeit, dass man sich aussuchen kann, was einem gefällt. „Magst du“ zum Beispiel geht auch überhaupt nicht. Höre ich Mütter, die ihre schreienden Kinder fragen „Magst du nicht aufhören mit weinen?“, dann klingt das Wort „abkindern“ zur Reduzierung eines zinslosen staatlichen Kredits durch Geburt eines Kindes plötzlich gar nicht mehr so schlimm.

Sehr aufschlussreich ist das gemeinsame Aufsuchen eines Lokals. Der Ostler sagt meist „Ich hätte gern …“ und will das nicht als Unterwürfigkeit, sondern als Höflichkeit verstanden wissen. Der Westler aber, der Checker mit seinem supi Selbstbewusstsein, stellt erst einmal etwas klar, wenn die Bedienung an seinem Tisch erscheint. „Ich bekomme …“, sagt er. Oder, noch schlimmer: „Ich kriege …“ Man kriegt Pickel, Kinder, manchmal auch Kredite oder eine aufs Maul, aber kein Essen! Ich kriege Zustände, wenn ich das höre.