: Luxuriöse Selbstisolation
IDEALSTAAT ATLANTIS Die 17. Rohkunstbau-Ausstellung im Schloss Marquardt bei Potsdam glänzt weniger mit ihrem Themen- als ihrem Ortsbezug. Schade, denn die 1994 im Spreewald aus der Taufe gehobene Kunstschau zielt auf anspruchsvolle, gesellschaftsbezogene Kunst
VON INGO AREND
Zwei Männer in einem Bett. Blütenweißer Damast. Sie schauen sich an und schweigen. Doch wer genau hinschaut, bemerkt: Die beiden sind ein und dieselbe Person. Ein paar Sekunden später streifen zehn identische Klone durch ein ebenso luxuriöses wie aseptisches Appartement, sitzen an einer Mahagonitafel oder auf dem blütenweißen Designersofa.
Ob jeder Besucher von Schloss Marquardt bei Potsdam die Anspielung in Niklas Goldbachs Blu-Ray-Videoarbeit „Ten“ versteht? Auf den ersten Blick würde man das Werk, für das sich der Künstler selbst verzehnfacht hat, vielleicht unter das Modethema „Multiple Identitäten“ subsumieren. Aber Atlantis? Was hat das coole Setting, das der 1973 geborene Berliner in der Penthouse-Suite eines Luxushotels am Potsdamer Platz gedreht hat, mit dem Mythos jener sagenumwobenen, angeblich untergegangenen Stadt in Kleinasien zu tun, die der griechische Philosoph Platon als Erster beschrieb? Und wer weiß schon, dass Platon in seinen Dialogen „Timaios“ und „Kritias“, in denen er die Atlantis-Sage entwickelt, von den zehn Königen dieses Reiches spricht? Erst, wer diese Information im Katalog der aktuellen Rohkunstbau-Ausstellung entdeckt, kann Goldbachs hochstilisierte, minimalistische Bildersequenz plötzlich als Sinnbild für die luxuriöse Selbstisolation der globalen Eliten begreifen, die sich nur noch aus austauschbaren „Platzhaltern“ rekrutieren – denn so nennt Niklas Goldbach seine Klone.
Das Beispiel zeigt: Die von dem Berliner Augenarzt Arvid Boellert 1994 im Spreewald aus der Taufe gehobene Kunstschau, die seit 2007 nun die Schlösser in der Gegend von Potsdam heimsucht, zielt auf anspruchsvolle, gesellschaftsbezogene Kunst. 2006 bis 2008 ließ sie sich von Krzysztof Kieslowskis Film-Trilogie „Drei Farben: Blau, Weiß, Rot“ inspirieren und rief das Erbe der Französischen Revolution auf. In diesem und im letzten Jahr fragt sie unter dem Titel „Atlantis“ nach dem aristokratischen beziehungsweise demokratischen Idealstaat.
Totalitäre Perfektion
Wie geschickt ihr Macher, Mark Gisbourne, ein Meister des kuratorischen Kammerspiels, das Ortsbezogene der eigens für die Schau gefertigten Installationen mit ihrem Generalthema verknüpfen kann, beweist Johanna Smiateks Arbeit „Ivory Tower“. Sie hat einen makellosen achteckigen weißen Pavillon in die Eingangshalle von Schloss Marquardt bei Potsdam gestellt. In seinem verspiegelten Inneren dämmert nun ein Landschaftspanorama mit exotischen Gebäuden auf, sobald man die Tür geschlossen hat. Dieser Elfenbeinturm ist sowohl ein Symbol für die Mystik der Rosenkreuzler, deren Orden ein Mitglied der ehemaligen Schlossbesitzerfamilie Marquardt anhing, als auch für die totalitäre Perfektion des Idealstaats, den Platon als Gegenbild zu der von ihm kritisierten Athener Demokratie entwarf und für den er die Atlantis-Erzählung als Folie nutzte.
An anderer Stelle wirken die Bezüge angestrengt und diffus. Die Bilder labelloser Lebensmittel des polnischen Künstlers Wilhelm Sasnal sind zwar ein virtuoses Beispiel für den malerisch ausgedrückten Zweifel an den Möglichkeiten des (Öl-)Bildes. Gisbourne hegt nämlich nicht den ideologischen Groll gegen die Malerei, der derzeit wieder mal en vogue ist. Mit Atlantis haben die Arbeiten freilich nicht viel zu tun. Und warum die filigranen, mit weißen Pigmenten überzogenen Miniaturdarstellungen von Schlachtenszenen der britischen Künstlerin Cathy de Monchaux spezifisch für den Militarismus sind, der Atlantis zugeschrieben wird, bleibt ebenfalls Gisbournes Geheimnis.
Erlesene Morbidezza
Für das Rohkunstbau-Prinzip, politisch brisante Fragen an historisch beziehungsreichen Orten aufzuwerfen, ist Schloss Marquardt nicht die schlechteste Wahl. Das Palimpsest diverser historischer Nutzungen wirkt selbst wie eine Metapher auf das untergegangene Atlantis. Irritierend allerdings, dass man sich nach dem Besuch des malerisch am Ufer des Schlänitzsees gelegenen Gebäudes von erlesener Morbidezza ungefähr so kritisch infiziert fühlt wie nach einem Wellness-Wochenende. Der geistige Ertrag der Schau fällt in diesem Jahr eben etwas dünn aus.
Dem israelischen Filmemacher Ori Gersht mag es in seinem Film „Evaders“ gelungen sein, Walter Benjamins einsame Flucht über die Pyrenäen nachzustellen. Doch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall ist die implizite Botschaft, dass das neue Europa der Zukunft keine Festung sein soll, weder neu noch aufregend. Es hätte auch des kurvenreichen Umwegs über das monophone Atlantis nicht bedurft, um uns die „Polyphonie“ eines neuen Europas schmackhaft zu machen. Stefan Roloff, der Pionier des Moving Image, hat einen Raum zur gotischen Kathedrale mit sechs Fensternischen umgestaltet. Das Gequassel, das sechs Personen da auf Videoendlosschleifen von sich geben, ist eine wunderbare Metapher auf das europäische Mantra von der Freiheit der Rede. Man muss sie allerdings auch aushalten können.
■ Bis 12. September, Schloss Marquardt, Potsdam. Katalog (Schiler Verlag) 18,95 €, www.rohkunstbau.de