Hans, Kyle im Glück etc.
: Ein modernes Märchen

Das Märchen von Hans im Glück war die Geschichte vom gerechten Lohn und dem ungleichen Tauschprinzip. Seine bekannte antikapitalistische Volte bestand darin, den Verlust zur höchsten Form des Gewinns zu erklären. So erzählte man uns die Geschichte, um uns zu ermahnen, dass das wahre Glück nicht der Erfolg sei. Materielle Güter würden dieses nur behindern. Dieser Tage hat der Kanadier Kyle MacDonald gezeigt, wie unzeitgemäß dieses Märchen ist und wie eine moderne Version aussehen muss, um ein kapitalistisches Märchen abzugeben. Tauschte Hans seinen Goldklumpen so lange, bis er auch sein letztes Gut, zwei Schleifsteine, im Brunnen versenkte, um mit leeren Händen im Glück anzukommen, so beschritt sein kanadisches Pendant den entgegengesetzten Weg. Er begann mit einer Büroklammer, die er über eine Internetbörse so lange tauschte, bis er letztlich ein Haus erhielt. Waren die Stationen des Grimm-Märchens noch so handfeste Dinge wie ein Goldklumpen, ein Pferd oder eine Gans, so verlief der Weg des umgekehrten Hans im Glück von einer Büroklammer über einen Kugelschreiber zu einem Türgriff. Weiter ging es mit einem Kocher, einem Generator und einem Autobus, um sich in einem Plattenvertrag, einem Skiurlaub und einer Rolle in einem Hollywoodfilm fortzusetzen. Letztere tauschte der findige Pizzaausträger nun gegen ein Haus in einem kleinen Ort in der Nähe von Montreal.

Die Geschichte funktioniert noch in anderer Hinsicht genau nach dem umgekehrten Prinzip des ursprünglichen Märchens. War dort die Krux, dass der jeweilige Gebrauchswert im Zentrum des Interesses stand und dieser immer durch eine „Materialschwäche“ beeinträchtigt wurde, so konnte die neue Art des Tausches nur darüber funktionieren, dass der eigentliche Gebrauchswert zurücktrat und zunehmend durch die ansteigende Prominenz des Tauschenden ersetzt wurde. Denn dieser trat mit fortschreitenden Geschäften aus der Anonymität der Tauschbörse hinaus, gab Radiointerviews und war Held von Zeitungsreportagen. So dass der zunächst wahnwitzige und unverständliche Tauscherfolg den wahren Tauschwert verdeckt: die Reputation. Der ungleiche Tausch kommt nicht durch Ausbeutung und Übervorteilung zu Stande, sondern durch die Lust, an der Originalität zu partizipieren – wie die Bürgermeisterin des Ortes, die ihm sein Haus anbot.

Was diese Neuinterpretation des Märchens jedoch mit der ursprünglichen Fassung gemein hat, ist das Ende der Geschichte. Hans ist nicht nur glücklich, weil er von allem materiellen Ballast befreit ist, sondern weil er mit seinen leeren Händen in der Hosentasche am exakt gleichen Ort endet wie der Kanadier – im eigenen Heim. ISOLDE CHARIM