: Dr. Spritzes Diagnosen
Ist die Tour de France zu hart? Werden die Radprofis dazu genötigt, ihre Leistung mit Dopingsubstanzen aufzupeppen? Ein zwielichtiger Insider, Dr. Georges Mouton, glaubt an die Zwangsläufigkeit des Dopings
AUS GAP SEBASTIAN MOLL
Es ist nicht gerade Radprofi-Art, über die Härten des Berufs zu klagen, schließlich gehören Leidensfähigkeit und Schmerztoleranz dazu. Patrick Sinkewitz vom Team T-Mobile sagt etwa zur Tour-Streckenführung, die ihm bis zu sieben Rennstunden in der prallen südfranzösischen Sommersonne abverlangt, dass „so nun eben die Tour“ sei. Darüber nachzudenken, ob die Belastung zu hoch sei, bringe „einen ja nicht wirklich weiter“.
Dem belgischen Sprintstar und amtierenden Weltmeister Tom Boonen hingegen platzte nach der Königsetappe über die Pyrenäen mit 206 Kilometern und nicht weniger als fünf Bergpässen der oberen Kategorien am vergangenen Donnerstag der Kragen: „Heute wurde eine Grenze überschritten“, sagte er zornig im Ziel. „Wenn die Verantwortlichen eine dopingfreie Tour wollen, dann dürfen sie uns nicht mehr solche Etappen antun.“
Es ist schon erstaunlich, dass nicht noch mehr Fahrer ihrem Zorn über die verordnete Quälerei Luft machen. Nach dem Dopingskandal von 1998 gelobten die Rennveranstalter im Profisport, die Strecken zu verkürzen und die Rennen einfacher zu machen, um die Versuchung der medizinischen Nachhilfe zu senken. Danach schlichen sich jedoch die alten Schwierigkeitsgrade wieder ein. Die Tour de France in diesem Jahr ist die längste seit 1998. Und es ist nicht nur die Tour, die die Radprofis körperlich an den Rand ihrer Leistungs- und Leidensfähigkeit bringt. Das neue System der Pro-Tour – einem ganzjährigen Rennzirkus der 22 besten Mannschaften der Welt – wird von Kritikern nachgerade als Zwang zum Doping empfunden. „Da muss dieselbe Gruppe von Fahrern von Februar bis Oktober bei den schwersten Rennen der Welt antreten. Und sie treffen überall auf die schärfste Konkurrenz. Das ist nicht menschenmöglich“, sagt der belgische Sportmediziner Dr. Georges Mouton. Er zieht seit vielen Jahren gegen die Überforderung im Radsport zu Felde, was verwundert, denn „Dr. Spritze“, wie er in Radsportkreisen genannt wird, ist ein Verfechter des Dopings. „Alles, was dem Radsportler dabei hilft, bei den von ihm geforderten Belastungen gesund zu bleiben“, sagt er allen Ernstes, „halte ich für moralisch nicht nur vertretbar, sondern geradezu erforderlich.“
Wo Mouton die Grenze zieht, will er angesichts laufender Ermittlungen gegen ihn nicht preisgeben. 2001 wurde er in Belgien des Handels und der Weitergabe leistungsfördernder Medikamente angeklagt und saß fünf Monate in Untersuchungshaft. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Er steht im Verdacht, die belgischen Radstars Frank Vandenbrouke und Johan Museeuw mit Epo und Wachstumshormon versorgt zu haben. Und auch in Deutschland wurde gegen ihn ermittelt, weil beträchtliche Geldsummen von deutschen Profis auf sein Konto überwiesen worden waren. Unter anderem wird er mit Jörg Ludewig in Verbindung gebracht, der gerade von seiner Mannschaft T-Mobile wegen Dopingverdachts suspendiert wurde.
Heute, sagt Mouton, habe er nichts mehr mit dem Radsport am Hut. Seine krude Einstellung hat sich nicht geändert: „Krank ist nicht das so genannte Doping. Krank sind die Anforderungen an die Fahrer. Ich helfe nur meinen Patienten, das auszuhalten, so, wie ich auch einem Manager helfen würde. Ich finde es unmoralisch, dass ich einen Sportler nicht genauso behandeln darf wie jeden anderen.“
Mouton klagt das ganze System des Radsports an. „Es will doch niemand auf das Spektakel der extremen Leistung verzichten“, deutet er mit dem Finger auf Veranstalter, Medien und Fans. Dieses Spektakel, die Streckenlänge, der volle Rennkalender stamme aus einer Zeit, „in der alles erlaubt war und keiner gefragt hat“; nur sollen die Fahrer heute dieselben Härten aushalten, ohne sich medizinisch dafür zu rüsten. „Eine Tour de France ist eine verrückte, eine wahnsinnige Belastung. Der Körper explodiert dabei, wenn man nicht nachhilft. Das Immunsystem kollabiert, der Sportler bekommt Durchfall, Fieber, ein Ermüdungssyndrom.“
Deshalb, glaubt Mouton, sei Doping im Radsport immer noch weit verbreitet. „Ende der 90er-Jahre, als ich im Radsport gearbeitet habe, haben bestimmt 80 Prozent der Fahrer Epo genommen. Man weiß ja, was herauskommt, wenn man eingefrorene Proben aus jener Zeit heute untersucht“, verweist er mit einem zynischen Lachen auf den Fall Armstrong. „Auch heute darf man nicht allzu genau hinschauen. Oder glauben Sie, dass Jan Ullrich der einzige gedopte deutsche Radprofi ist?“
Um dem Problem Einhalt zu gebieten, reiche es nicht aus, Doping zu verbieten und zu bestrafen. „Man muss den Fahrern auch helfen.“ Man ahnt, was Dr. Spritze damit meint.