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Archiv-Artikel

ADRIENNE WOLTERSDORF über OVERSEASDer Flehen und Feilschen der Geheilten

Das US-Gesundheitssystem ist berüchtigt. Aber wen es nicht umbringt, den macht es immerhin härter

Es ist nicht schön, Post zu bekommen, in der steht, dass man in sehr naher Zukunft aller seiner Habseligkeiten entledigt sein wird. Solche Erschütterungen bietet das amerikanische Gesundheitswesen. Wohlgemerkt, nachdem es einen gerade so wieder gesund gemacht hat. Vor zwei Monaten musste der Liebste hier in Washington ins Krankenhaus. Er hatte sich eine Meningitis eingefangen.

Die Krankheit, die hauptsächlich aus Kopfschmerzen und Fieber besteht, ist zwar unangenehm, heilt sich aber im Grunde selbst. Eine Woche lang lag er im Krankenhaus, immer wieder von freundlichen Ärzten besucht, die ihm versicherten, außer Schmerzstillen und Abwarten sei nicht viel zu tun.

Das ist nun schon über acht Wochen her, alles ist geheilt. Doch jetzt ist es die Post, die regelmäßig Kopfschmerzen bereitet. Denn in unserem Briefkasten bekämpfen sich nun gegensätzliche Interessen, beharken sich Bürokraten, kollidieren die Systeme, kurz: Es ist der Kapitalismus in voller Fahrt.

Zunächst sah alles ganz harmlos aus. Die Verwaltungen des Notarztwagens und des Krankenhauses schickten Rechnungen. Erste Rechnungen, wie wir dann merkten. Täglich wuchs die Summe und die Liste von Leistungen, die in Anspruch genommen worden waren. Labore aller Fachrichtungen waren beteiligt – bei einer Behandlung, die eigentlich doch nur aus Kopfschmerztabletten und Fieber senkenden Mitteln bestanden hatte.

Nach Wochen erst konkretisierten sich die Forderungen: 25.000 Dollar für den sechstägigen Heilaufenthalt. Oha, dachten wir, ist ja gepfeffert. Aber gut, dass wir in Deutschland versichert sind, puh.

Die USA-Ansprechpartnerin unserer Versicherung sitzt in Miami (!) und war vor dem Versicherungsfall noch recht extrovertiert und kommunikativ gewesen. Nun schien sie plötzlich verreist zu sein. Beantwortete keine Telefonanrufe mehr, mailte nur noch knapp („Zurückschicken ans Krankenhaus!“ oder „Diese Rechnung erkennen wir nicht an!“).

Der Liebste wurde unterdessen von einer ganzen Armada von Verwaltungsangestellten namens Charmaine oder Jarmaine angerufen und davon in Kenntnis gesetzt, dass die Zahlfrist ablaufe. Dann der Brief, der die Pfändung unseres Eigentums in 72 Stunden ankündigte.

Panik. Wir würden die abgrundtiefe Grausamkeit des nur an Profit interessierten US-Gesundheitssystems zu spüren bekommen, dachten wir nun. „Das ist doch normal, darüber müssen sie sich keine Gedanken machen“, lachte eine der Jarmaines, die wir in heller Aufregung anriefen und um Aufschub anflehten. Unsere deutsche Versicherung werde sicherlich alles bezahlen, beteuerten wir, unser Gesundheitssystem sei zwar nicht mehr das beste, aber doch gewiss noch in der Lage, diese Rechnung zu begleichen. Außerdem habe unsere neue Kanzlerin, you know, Anschela Märkel, doch gerade noch mal alles reformiert und damit besser gemacht.

Die Frist verstrich, nichts passierte. Wir hatten inzwischen alle Freunde angerufen, die uns kompetent in Sachen US-Krankenhäuser erschienen. „Ja, habt ihr denn nicht gehandelt?“, fragten uns alle entsetzt. Handeln?

Aber natürlich. Regel Nr. 1: Man gehe aus keiner Arztpraxis hinaus, ohne ein ernstes Wort über die Rechnung zu verlieren, hörten wir. Wichtig sei die Abfolge der Strategien, von ungläubigem Entsetzen bis eben hin zu Jammern. Außerdem Wettbewerbsdruck, à la „dort gibt es den Urintest aber noch viel billiger“. Das reicht dann meist, um die Kosten schon mal um 30 bis 40 Prozent zu senken. Auch wenn die Versicherung eines Tages zahlen wird, kampflos sollte das Feld niemals geräumt werden.

Regel Nr. 2: Cool bleiben. Bei den sich nach jeder Krankheit monatelang dahinziehenden Preisverhandlungen sei Pokerface angesagt. Die Dame in Miami mache es genau richtig. Zermürbungstaktik. Gegenforderungen aufstellen, ins Leere laufen lassen. Negative Energie umgehend zurückgeben. Totstellen – wir haben verstanden: Es ist das ganz normale Taekwondo der Gesundheitsindustrie, in das wir geraten sind. Die Versicherung wird zahlen, irgendwann, solange tragen sie ihre Schaukämpfe in unserem Briefkasten aus.

Fehlt nicht auch im deutschen, bekanntlich ebenfalls superteuren Gesundheitssystem das theatralische Element? Ich stelle mir vor, wie sich der deutsche Hang zum Jammern und Entsetzen, gezielt in Arztpraxen zum Einsatz gebracht, kostenschonend auf das ganze System auswirken könnte. Ließe man uns in Old Europe nur mal freien Lauf …

Fotohinweis: ADRIENNE WOLTERSDORF OVERSEAS Sind Sie sicher versichert? kolumne@taz.de Morgen: Josef Winkler in der ZEITSCHLEIFE