: Putins junge Garde sucht den Superstar
Der Kreml braucht eine Frischzellenkur und setzt bei der Suche nach geeignetem Nachwuchs auf die „Junge Garde“
MOSKAU taz ■ „Politsawod“ – Politikwerkstatt oder Kaderschmiede – steht über dem Tanzklub in Lipezk. Angehende Politiker werden an diesem Nachmittag in der Disko ermittelt. 16 Kandidaten kommen in die Endrunde des Wettbewerbs. Auf die Sieger wartet eine sorgenfreie Zukunft. Die Kremlpartei „Einiges Russland“ vergibt als Hauptgewinne sichere Listenplätze für Parlamentssitze, von der Kreisebene bis zur Staatsduma.
Die Partei kann sich vor Bewerbern aus dem Establishment kaum retten. Doch bei der Jugend hapert es. Das Durchschnittsalter liegt um die 60. Frisches Blut muss her: Sie reserviert nun jedes fünfte Mandat für Kandidaten und Kandidatinnen zwischen 21 und 28 Jahren.
Lipezk ist eine Industriestadt, errichtet rund um ein Metallkombinat 450 Kilometer südlich von Moskau. Bis zuletzt hängen Aktivisten noch Banner mit dem stilisierten Zahnrad der Politfabrik auf. Dann übernehmen zwei stadtbekannte DJs die Moderation. Veranstalter ist die Jugendorganisation der Partei, die „Molodaja Gwardia“ (Junge Garde), so benannt in Anlehnung an eine Widerstandsgruppe des kommunistischen Jugendverbands im Zweiten Weltkrieg. Die Putin-Jugend ist um ein martialisch-patriotisches Image bemüht.
Erst nach den Revolutionen in Georgien und der Ukraine, die die alte Macht hinwegfegten, haben Russlands Sozialingenieure die Jugend entdeckt. Mit den „Naschi“ (die Unseren) schuf der Kreml eine antirevolutionäre Vorhut, die auch mal mit Skinheads zusammen politische Gegner verprügelt. Die Junge Garde ist dagegen eher bieder.
„Du bist jung, aktiv und willst nach vorn. Die Türen zur Macht öffnet dir die Politsawod!“ Die DJs heizen ein. Über 100 stimmberechtigte Fans der KandidatInnen haben sich versammelt. Sie johlen und schwenken ihre Stimmzettel. Sie sind Juroren und Cheerleader in einem. Das Konzept ist der in Russland beliebten TV-Show „Music Star“ abgeschaut. Junggardistenchef Iwan Demidow kommt vom Fernsehen. „Das ist der erste Schritt zur Erneuerung der Elite“, behauptet er. Wo der russischen Seele Flügel wachsen sollen, darf er nicht fehlen. Er garantiert die gewünschte Mischung aus „hippem“ Äußerem und ewiger russischer Vormoderne.
Jeder kann am Wettbewerb teilnehmen. Parteizugehörigkeit spielt zunächst keine Rolle. Im ersten Durchgang beantworteten die Bewerber schriftlich Fragen. „Sind die USA unsere Freunde, Feinde oder Handelspartner?“ Differenzierte Antworten kamen zustande. Auch im Fall des enteigneten Ölbarons Chodorkowski vertraten einige kremlfremde Positionen, etwa mit solchen Aussagen: „Wirtschaftlicher Erfolg eines Einzelnen? Nicht für die russische Mentalität.“ Oder kurz und bündig: „Wer anders denkt, ist wieder verdächtig.“ Auch mutigere Teilnehmer schafften es in die zweite Runde – in der dritten sind sie nicht mehr dabei.
„Wir suchen selbstbewusste Führungsfiguren“, sagt Demidow. Von den 16 Kandidaten fühlen sich alle berufen. Aber Elite? Ein Mix aus patriotischen Formeln, Heilsvisionen und ewigen russischen Vorurteilen wird von der Bühne verbreitet, erschreckend simpel angesichts der vielen Hochschulabsolventen. Originell präsentieren sich nur Alexei und Swetlana.
Alexei ist mit 16 Jahren in der umweltbelasteten Metallstadt in die Ökobranche eingestiegen. Jetzt, mit 24, hat er ein kleines Unternehmen und wird zum dritten Mal Vater. Ein Modellfall, wie ihn Putin als Vision hätte beschwören können. In die Endrunde schafft es Alexei aber nicht. Er ist konkret, verzichtet auf Ideologie und ist sich seiner sicher. Von den USA oder Brüssel fühlt er sich nicht bedroht wie so manch anderer Kandidat.
Die 21-jährige Swetlana stammt vom Land, studiert Jura und ist ein Energiebündel. Sie will unbedingt politisch arbeiten, auch gegen den Willen ihrer Eltern. Sie lehnt radikale nationalistische Parteien ab, ist aber auch flammende Patriotin. Putin ist ihr Idol. So einen wünschte sie sich als Mann, sagt sie. Swetlana stellt den Konkurrenten provokative Fragen, die aber im Publikum nicht gut ankommen. Etwa diese: Werden Frauen in Russland jemals eine Chance haben?
Swetlana hat keine Chance. Sie sei „emotional instabil“, sagt ein Funktionär. In der Parteisprache ein vernichtendes Urteil: Sie hat einen eigenen Kopf. Von den sieben Gewinnern stammen alle entweder aus der Partei, der Verwaltung oder sind Verwandte einflussreicher Lokalgrößen. Die Gerontokratie sucht sich eine verlässliche Avantgarde.
KLAUS-HELGE DONATH