: Die großen und die kleinen Ausschließungen
43. INTERNATIONALES FILMFESTIVAL ROTTERDAM Debütfilme wie „Bella Vista“, Arbeiten, die den traditionellen Kinobegriff überschreiten, wie die des Dänen Nils Malmros, oder Werke aus geopolitischen Randlagen: dafür ist dieses feine Festival seit je bekannt
VON ISABELLA REICHER
Ein Regisseur reist 1984 in Begleitung seiner jugendlichen Hauptdarstellerin zur Berlinale. Er hat einen Film gedreht, der von einer nicht ganz einfachen Abnabelung erzählt, von einem Machtkampf zwischen Vater und halbwüchsiger Tochter. Der Film läuft im Wettbewerb. Die Frau des Regisseurs, eine Grundschullehrerin, ist zur gleichen Zeit daheim in Dänemark in einer psychiatrischen Klinik inhaftiert. Zuvor hat sich im Leben des Paares eine Tragödie ereignet.
Dieses schwer zu begreifende Ereignis wird in „Sorrow and Joy/Sorg og glæde“ in zunächst seltsam kühler Weise enthüllt. Dann wird gemessenen Schrittes und denkbar unvoreingenommen der Vorgeschichte der Tat und ihrer Auswirkung nachgegangen. „Sorrow and Joy“ ist die bisher letzte Arbeit von Nils Malmros, dem das International Film Festival Rotterdam in diesem Jahr verdientermaßen eine Werkschau ausrichtete. Malmros, geboren 1944 im dänischen Arhus, wo er seit den späten Sechzigern viele seiner Filme dreht, ist in seiner Heimat ein vielfach ausgezeichneter Auteur.
Kinder als Hauptfiguren
Er war beispielsweise 1984 im Wettbewerb der Berlinale mit „Beauty and the Beast/Skønheden og udyret“ vertreten. In den Verleih kamen seine Filme auswärts aber kaum. So ist der Regisseur international weitgehend unbekannt geblieben. Vom Aufschwung des dänischen Kinos, den die (jüngere) Dogma-Generation initiierte, hat er nicht profitiert. Malmros untersucht menschliche Beziehungen. Seine Hauptfiguren sind häufig Kinder und Jugendliche, die noch zur Schule gehen. Die Erzählungen ergeben sich aus den Dynamiken im Klassenverband, den kleinen Ein- und Ausschließungen, die dabei mehr oder weniger offen vor sich gehen: Freundschaften werden besiegelt und verraten, Lieben nicht erwidert.
Mitunter begeben sich auch noch Erwachsene – Lehrer, Väter – wider besseres Wissen in Konkurrenz zu den Teenagern. Diese Themen und Motive tauchen in Variationen immer wieder auf, ebenso wie Bezüge auf Malmros’ eigene Biografie, die schließlich in „Sorrow and Joy“ kulminieren. Für solche Entdeckungen ist das Festival von Rotterdam gut. Man fährt hierher, um Unbekanntes kennenzulernen: Debütanten, Arbeiten, die den traditionellen Kinobegriff überschreiten – wie das experimentelle „vertikale Kino“ heuer –, oder Filme der (geopolitischen) Randlagen.
Wie sehr sich Rotterdam für Letztere selbst noch abseits des Festivals engagiert, davon zeugt das Förderprogramm Hubert Bals Fund, dem eine Retrospektive zum 25. Jubiläum galt. Aber in diesem Jahr widmete man sich vor allem ungewöhnlich großflächig dem „State of Europe“ – und damit ist die Lage ebenso gemeint wie ein fiktiver 29. EU-Mitgliedsstaat für all jene, denen man in den 28 bestehenden keinen Aufenthalt gewähren will.
Auch der „State of Festival“ wird in Rotterdam fortlaufend verhandelt: Im nächsten Jahr soll eine Handvoll Festivalpremieren per Live Feed in ausgewählte Kinosäle in ganz Europa und per VOD in private Haushalte übertragen werden, Partizipation bei Publikumsgesprächen via Social Media möglich sein. Dieses Vorhaben namens IFFR Live! mag ein Weg sein, den Ereignischarakter eines Festivals im digitalen Medienverbund zu behaupten (und als PR für späteren Kinoeinsatz zu nutzen).
Es erinnert aber auch ein wenig an die sogenannte Video Library im Festivalzentrum, wo schon jetzt für Fachbesucher viele der gezeigten Titel als Stream abrufbar sind. Eine zersplitterte Öffentlichkeit, jenseits der Erfahrung von Kino.
Wilde Lovestory
In den Sälen teilte man hingegen in diesem Jahr noch ganz traditionell die Begeisterung über Ester Martin Bergsmarks Spielfilm „Something Must Break/Nånting måste gå sönder“: eine ungewöhnliche, wilde Liebesgeschichte, die die Identitäten der Protagonisten Sebastian und Andreas testet. Bergsmark durchsetzt und dynamisiert Milieurealismus mit melodramatischen Energien (der Film gewann am Ende einen der drei Hauptpreise).
Sein Berliner Kollege Julian Radlmaier hingegen stellte mit dem Film „Ein proletarisches Wintermärchen“ einen weiteren gewitzten Kommentar zu gegenwärtigen (Arbeits-)Verhältnissen vor. Der Katalane Luis Miñarro, eigentlich als Produzent durchaus eigensinniger Filmemacher wie Sergio Caballero bekannt, präsentierte mit „Stella cadente/Falling Star“ eine eigene Regiearbeit: einen modernen, reduzierten, aber im Detail schwelgerischen Kostümfilm über den erzwungenen Stillstand, über einen Reformator im Geiste – ohne Handlungsspielraum in einem korrupten Milieu. Und nicht nur die US-Amerikanerin Vera Brunner-Sung, die in ihrem Erstling „Bella Vista“ anhand einer fragmentarischen, aber konkret in Montana verorteten Erzählung vielfältige Migrationserfahrung skizzierte, zeigte, dass es abseits der „Grand Tour“ durch Europa auch noch viel zu sehen gab.