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Archiv-Artikel

Aus der Balance

Der arabische Nachrichtensender Al-Dschasira bezieht im Nahostkonflikt Position für die Hisbollah, obwohl ein hauseigener Kodex das verbietet. Der Sender verpflichtet sich darin zu Objektivität

Von Kerstin Speckner

„Die Mächtigen der Welt können Al-Dschasira nicht ignorieren“, so sieht sich der Satellitensender aus dem Golfstaat Qatar gerne selbst. Dass immer wieder Mächtige gegen Journalisten des arabischen Senders vorgingen, wertet man in der Zentrale in Doha stets als Beleg für die eigene Unbestechlichkeit. So auch in der vergangenen Woche, als israelische Behörden Mitarbeiter von Al-Dschasira verhafteten. Der Vorwurf: Ihre Bilder hätten der Hisbollah erleichtert, Ziele in Israel zu beschießen.

Dass dieser Vorwurf nicht wirklich haltbar ist, zumal viele der inkriminierten Bilder auch von israelischen Kanälen gezeigt wurden, war bald klar. Dass die Journalisten des Nachrichtenkanals jedoch nicht nach Israel gekommen waren, um über unschuldige zivile Opfer zu berichten, jedoch auch.

Moralkodex wird ignoriert

Amira Oron vom israelischen Außenministerium wirft dem Sender zudem vor, parteiisch zu sein und in erster Linie die Opfer auf libanesischer Seite darzustellen. Solch ein Vorgehen widerspricht dem hauseigenen „Code of Ethics“, in dem sich der Sender verpflichtet, objektiv, ausgewogen und mit Sorgfalt zu arbeiten. Al-Dschasira wurde 1996 mit dem Anspruch gegründet, als erster arabischer Nachrichtensender nach westlichen journalistischen Prinzipien zu arbeiten und jeweils beide Seiten zu Wort kommen zu lassen. Ehrlich, fair und glaubwürdig sollen die Nachrichten sein und den Schwerpunkt auch auf Themen setzen, die für westliche Sender uninteressant sind.

In vielen arabischen Haushalten ist der Sender aus Doha durch seine Kriegsberichterstattung über Afghanistan und den Irak populär geworden – und oft zur einzigen Informationsquelle. Ausführlich berichteten die Qatarer damals über jedes „friendly fire“ der Amerikaner, in nüchternen Zahlen statt mit offener Schadenfreude. Wer damals nur Al-Dschasira sah, wundert sich wohl heute noch, warum die amerikanische Armee sich nicht längst selbst vernichtet hat.

Auch im derzeitigen Kriegsprogramm ignoriert man den hauseigenen Kodex. Die Sympathien des Senders liegen bei der Hisbollah, deren „Verteidigungskampf“ zwar nicht logistisch, aber moralisch unterstützt wird, etwa in ausführlichen Schilderungen ihrer „Erfolge“.

Stolz ist man bei Al-Dschasira darauf, dass auch Israelis vor der Kamera erscheinen. Diesen Auftritten werden jedoch ausgiebige Darstellungen über Tod und Zerstörung im Libanon gegenübergestellt. Die vielen libanesischen Opfer, die oft mit Na- men und Foto personalisiert werden, sollen zeigen, wo die Opfer und wo die Täter stehen. Die zivilen Opfer im Gaza-Streifen werden auf Al-Dschasira zu „Märtyrern“.

Folgt man in der derzeitigen Kriegsberichterstattung der „eigenen, neuen“ Al-Dschasira-Perspektive, so scheinen mit Hisbollah und der Armee Israels gleichstarke Gegner aufeinander zu treffen. Dass Israel technisch weit überlegen ist, kann selbst Al-Dschasira nicht schönreden. Daher suggeriert man, die Hisbollah gleiche ihre technische Unterlegenheit durch Gerissenheit und Mut aus. Das bestätigt auf www.aljazeera.net sogar die Gegenseite, israelische Soldaten bewundern, anonym natürlich, den Mut der Hisbollah-Kämpfer.

Die Männer des „islamischen Widerstands im Libanon“, so steht es auf der Hisbollah-Flagge und bei Al-Dschasira, verteidigen also relativ erfolgreich ihr Land: Wenn Hisbollah-Raketen ein militärisches Ziel treffen, erklärt der Sender, warum es strategisch wichtig war. Dieses Schulterklopfen, das die tatsächlichen Relationen verschiebt, wird mit exakten Zahlen belegt: „Die Hisbollah trifft fünf israelische Panzer und tötet und verwundet die Insassen“, so eine Meldung von gestern. Die Zahlen, oft von westlichen Agenturen, werden mit den Beobachtungen eigener Korrespondenten gemischt.

Hisbollah reagiert nur

Dem Vorwurf, nur über arabischen Opfer zu berichten, kommt der Sender zuvor: Auch tote israelische Zivilisten kommen bei Al-Dschasira vor. Sie starben „im Rahmen der Reaktionen auf die israelische Bombardierung libanesischer Städte“.

Wie wichtig Al-Dschasira ist, haben unterdessen auch israelische Journalistenkollegen erkannt. Yoav Stern von der israelischen Zeitung Ha’aretz stellte ironisch fest, dass Israels Politik, sich verteidigen zu müssen, glaubwürdiger sei, wenn jeder auf Al-Dschasira sehen kann, dass auf Israel Raketen fallen.