SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN
: Uniform des Mageren

Die aktuelle Ausgabe von „Texte zur Kunst“, Heft Nr. 78, Juni 2010, 15 Euro, widmet sich der „Mode für alle“

Vor allem die Streitbarkeit überzeugt, mit der aktuelle Diskurse systemkritisch hinterfragt werden

Die Mode ist möglicherweise die angemessene Ausdrucksform des 21. Jahrhunderts. Kein anderer Konsumartikel wird als so eng mit der Identität ihrer Träger verbunden wahrgenommen wie die Kleidung. Als Mittel der kreativen Selbsterhaltung verhandelt die Mode Werte wie Individualität und Authentizität und ist zugleich wirkungsvolle Strategie sozialer Adaption. Unter dem Titel „Mode für alle“ untersucht die aktuelle Ausgabe von „Texte zur Kunst“, nach relevanten Themenheften 1997 und 2004, ein weiteres Mal die kulturelle Bedeutung des Phänomens Mode in der Gegenwart.

Jetzt geht es weniger darum, der strukturellen Ähnlichkeit zwischen der Modebranche und der Kunstszene nachzugehen. Vielmehr wird die in jüngster Zeit gerne proklamierte „Demokratisierung“ der Modewelt, etwa durch Einflüsse von der Straße, kritisch hinterfragt.

Autorin Monica Titton untersucht in ihrem Essay „Mode in der Stadt“ das Thema Street-Style-Blogs. Dabei handelt es sich um Internetportale wie „The Satorialist“ oder „Facehunter“, die gratis Fotos gut gekleideter Großstädter zu Verfügung stellen und damit bereits als Erneuerer des Systems Mode gefeiert wurden. Die Blogger, wird argumentiert, hätten die Definitionsmacht darüber, was gerade Mode sei, den Produzenten entrissen und an die Konsumenten zurückgeben. Jüngstes Beispiel ist der Obdachlose Brother Sharp, der die Welt der Modeblogs mit seinem authentischen Grunge-Look in Verzückung versetzte und dessen Outfits, die er bei der Suche nach Essensresten in der chinesischen Stadt Ningbo trägt, seitdem regelmäßig dokumentiert und besprochen werden. Wer Stil hat, lautet die Botschaft, braucht kein Geld, sondern ist in seiner Einzigartigkeit etwas Besonderes und hebt sich von der Masse ab. Obwohl Titton die große Bedeutung der Modeblogs als modische Vermittlungsinstanzen anerkennt, hält sie die dort postulierte Freiheit doch nur für eine scheinbare. Der Demokratisierungsprozess der Mode werde nicht von dem der Körper begleitet. Durch die Reproduktion der von der Modeindustrie diktierten Schönheitsideale durch die Modeblogs würde der wirtschaftlichen Hierarchienbildung lediglich eine biopolitische gegenübergestellt. Titton spricht von einer „Illusion der Inklusion“, welche durch das Blogwesen vermittelt werde und die der Modeindustrie letztendlich zuträglich sei.

Mit Körperpolitik und Schönheitsidealen befasst sich auch der Beitrag „Mode und Lebendigkeit“ von Herausgeberin Isabelle Graw. Ihr Kommentar zur modelfreien Brigitte liest sich als kluges Plädoyer für die Erhaltung eines Berufsstandes. Graw kritisiert den Dilettantismus der Laien-Models in der Zeitschrift Brigitte, deren Problemzonen in den Fotostrecken wie zum Beweis ihrer „Echtheit“ erbarmungslos ausgestellt würden. Innerhalb des zutiefst künstlichen Bezugssystems der Mode, argumentiert Graw, habe Natürlichkeit nur als raffinierte Inszenierung Platz. Ein Gegensatz, der angesichts des offensichtlich erheblichen Aufwandes, mit denen die Amateurschönheiten für die Aufnahmen zurechtgemacht werden, nur allzu offensichtlich wird. Während die Brigitte vorgibt, mit der Abbildung „natürlicher“ Frauen einen Befreiungsschlag gegen medial vermittelte Schönheitsnormen zu leisten, entlarvt Graw das Konzept als eine Strategie der vorherrschenden „Gouvernementalität“, mit der die Medien versuchen, ins Leben der Konsumenten einzudringen.

Einen Schritt weiter geht Mahret Kupka, die in dem Essay „Uniform des Mageren“ der Persistenz der extra schmalen Silhouette in der Mode nachgeht. Am Beispiel der „Skinny Jeans“ zeigt sie, welche normative Kraft die aktuelle Kleidermode in sich birgt. So sei das Streben nach schlanken Körperformen tatsächlich wesentlich durch die schmalen Schnitte der Kleidung bedingt.

Weitere lesenswerte Beiträge stammen von Sonic-Youth-Frontfrau Kim Gordon, die am Beispiel des Labels Rodarte voyeuristische Blickstrukturen untersucht, sowie den Literaturwissenschaftlerinnen Barbara Vinken und Gertrud Lehnert, die sich mit der Bedeutung westlicher Herrenmode und der Rolle des Dandys im Kongo beschäftigen beziehungsweise gegenwärtige Modetrends unter den Aspekten Globalisierung und Postkolonialismus analysieren. Die vorliegende Ausgabe von Texte zur Kunst überzeugt vor allem durch ihre Streitbarkeit, mit der aktuelle Diskurse systemkritisch hinterfragt werden. Es bleibt zu hoffen, dass sich daraus neue Impulse für die akademische Modetheorie ergeben, die in Deutschland bislang noch dazu neigt, einen allzu großen Sicherheitsabstand zu ihrem Forschungsgegenstand einzuhalten. DIANA WEIS