: Britischsein als Schulfach
Die Regierung Blair will Werteunterricht einführen, um „extremistisches Abdriften“zu verhindern. Doch welche Identität soll den Jugendlichen eingetrichtert werden?
Saufende Teenager und sexgeile Skandalzeitungen oder stilvolle Zurückhaltung und Höflichkeit? Der britische Bildungsstaatssekretär Bill Rammell will einen Werteunterricht als Pflichtfach für 11- bis 16-jährige einführen, in dem „grundlegende britische Werte“ erlernt werden. Doch was sollen diese Werte sein? Anders als der Ethikunterricht, der in Berlin eingeführt wird, soll es nicht um „kulturelle und ethische Probleme“ gehen – sondern darum, den „Kern“ des Britischseins einzutrichtern.
Der Hintergrund von Rammells Vorschlag ist der Schock der britischen Öffentlichkeit darüber, dass die Männer, die die Anschläge in London vor einem Jahr verübt haben, in Großbritannien geboren und aufgewachsen waren. Vor allem den Kindern aus ethnischen Minderheiten und Migrantenkindern sollen deshalb britische Werte beigebracht werden. So könne man ein „extremistisches Abdriften“ bekämpfen, sagte Rammell.
Der Kolumnist A. C. Grayling fragt dazu im Guardian: „Besoffene Halbstarke; Schlägereien zwischen Fußballfans; Rassismus und Ausländerfeindlichkeit; schwabbelnde weiße Bäuche über Union-Jack-Unterhosen; Snobismus; gemeine, schnüffelnde, sexbesessene, skandalgeile Gossenblätter; koksende Starlets; unintelligente und unliberale Politiker; Verkehrschaos; Müll; mieser öffentlicher Nahverkehr; kleingeistiger Nationalismus; überbezahlte leistungsschwache Sportler – entsprechen irgendwelche dieser Dinge Blairs Vorstellungen von britischer Identität?“
Grayling räumt ein, dass der Premierminister Tony Blair das wohl nicht meinte. „Aber er meinte sicher auch nicht Toleranz, Fairplay, den Wunsch nach Unabhängigkeit und Privatsphäre sowie das Bewusstsein, dass jedes Individuum ein Freiwilliger in der Gesellschaft ist, in dessen Angelegenheiten sich niemand einmischen darf“, schreibt Grayling und fügt hinzu, dass Blairs unliberaler Instinkt ihn in die entgegengesetzte Richtung treibe: mit den Beschränkungen der Meinungsfreiheit etwa.
Graylings Kommentar hat eine breite Diskussion ausgelöst, aber eine Definition der britischen Identität ist dabei nicht herausgekommen. Einig ist man sich lediglich, dass Expremier John Majors Beispiel der alten Lady, die eine Landstraße entlangradelt, vorbei an Cricketfeldern, auf denen fröhliche, rotgesichtige Menschen warmes Bier trinken, längst überholt ist.
Der Journalist Stuart Jeffries argumentiert, dass Werte nicht mit Nationalcharakteristika verwechselt werden dürfen: So seien zum Beispiel Höflichkeit, Schüchternheit und Humor, für die sich Engländer rühmen, höchstens nationale Eigenschaften. „Werte hingegen sind unsere Ideale, unsere grundlegenden Richtlinien und moralischen Standards, die wir anstreben“, schreibt Jeffries. „Es ist aber ziemlich schwierig, die britischen Werte zu bestimmen. Selbst diejenigen, die hier geboren und aufgewachsen sind und jene Werte ausdrücken mit allem, was sie tun, können diese Werte nicht benennen.“
Auch Shami Chakrabarti, die Direktorin der Menschenrechtsorganisation Liberty, tut sich bei der Definition schwer: „Es geht nicht darum, ob man das Rezept für Rosinenkuchen kennt oder welches Cricket-Team man anfeuert. Wenn überhaupt, dann müsse es dabei um Menschenrechte gehen. Es ist freie Meinungsäußerung, es sind faire Prozesse.“ Aber das sollte für alle demokratischen Staaten gelten. Wenn Blair das Wort „britisch“ benutze, meine er in Wahrheit „blairisch“, mutmaßt Grayling. „Für Blair ist britische Identität, dass wir es hassen, uns beim Kellner über die Fliege in der Suppe zu beschweren, dass wir anstehen, ohne zu murren – dass wir Dinge hinnehmen.“ Die Migranten sollen diese Aspekte britischer Geschichte und Kultur lernen, die sie dazu bringen, alles zu akzeptieren. „Glaubt Blair“, fragt Grayling, „dass die Briten den Unfug, den er für Britischsein hält, lammfromm akzeptieren? Wenn er damit Recht hat, haben wir ihn verdient.“
RALF SOTSCHECK