: „Die Ängste kommen nicht aus der Bibel“
MORAL Auch wenn von „Schande“ die Rede ist: Mit der Bibel lässt sich Homosexualität nicht verdammen, sagt die Theologin Claudia Janssen
■ 47, ist Studienleiterin im Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie, Hannover, und außerplanmäßige Professorin für Neues Testament an der Universität Marburg.
INTERVIEW INES POHL
taz: Frau Janssen, kann denn Liebe Sünde sein?
Claudia Janssen: Nein, Liebe kann keine Sünde sein, aber Gewalt in sexuellen Beziehungen – sei es in hetero- oder homosexuellen Beziehungen – ist Sünde oder in heutigem Deutsch gesagt: Gewalt ist Unrecht und nicht die Liebe zwischen Menschen, die sie gleichberechtigt leben.
Klare Worte einer Theologin. Und trotzdem beziehen sich Menschen immer wieder auf die Bibel, wenn sie homo- und bisexuelle Menschen verdammen.
Homosexualität ist in der Bibel absolut marginal. Das wissen die meisten gar nicht. Niemand würde sich über die heutige Debatte wohl mehr wundern als Paulus selbst, auf den sich ja viele beziehen. Er hat gerade einmal zweieinhalb kurze Sätze zu diesem Thema gesagt.
Welche denn?
Im ersten Kapitel des „Briefs an die Römer“ (Übersetzung Luther 1984) steht: „Darum hat sie Gott dahingegeben in schändliche Leidenschaften; denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem widernatürlichen; desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den Lohn ihrer Verirrung, wie es ja sein musste, an sich selbst empfangen.“
Was sagen Sie nun dazu?
An dieser Stelle ist nichts zu retten: Sexualität zwischen zwei Frauen ist für Paulus ebenso „wider die Natur“ wie die zwischen zwei Männern. Das liegt daran, dass Sexualität in der Antike so definiert war, dass ein aktiver freier Mann ein passives sozial unterlegenes Gegenüber penetriert: eine Frau oder versklavte Menschen – das können männliche Sklaven sein oder Frauen oder Jungen. Die Sexualität zweier freier Männer aber war wider die Natur.
Also Sex zwischen einem Mann mit einem männlichen Sklaven war für Paulus in Ordnung?
Für die römische Antike allgemein war das kein Problem, oft mussten sich erwachsene Sklaven rasieren, um „unmännlicher“ zu erscheinen. Aber Paulus hat dies aufgrund seiner jüdischen Tradition ganz abgelehnt (Das dritte Buch Mose, 18,22).
Und was wäre dann mit zwei Frauen?
Nun, wenn zwei Frauen miteinander schliefen, musste nach der Vorstellung, die zu Paulus’ Lebzeit existierte, eine ihre geschlechtlichen Grenzen überschreiten, indem sie die aktive „männliche“ Rolle übernahm. Und das war dann eben entsprechend gegen die Natur.
Das klingt, als dürften Frauen eine aktive Rolle in der gelebten Sexualität grundsätzlich nicht einnehmen. Auch nicht mit einem Mann?
Der griechische Text ist hier sehr sprechend: „Frauen lehnen ihren naturgemäßen Gebrauch ab.“ Eine gleichberechtigte heterosexuelle Geschlechterbeziehung ist in dieser Vorstellung ebenfalls nicht denkbar, sie wäre genauso „gegen die Natur“.
Die Bibel also als ein Unterdrückungsinstrument. Das muss für Sie als feministische Theologin aber hart sein.
Nicht die Bibel, sondern die patriarchale Ordnung unterdrückt die Menschen, Frauen wie Männer. Paulus warnt aus diesem Grund ja immer vor der Ehe, weil er sieht, dass diejenigen, die sich in die Ehe begeben, sich genau in die patriarchalen Strukturen der Gesellschaft begeben und dann nicht mehr in der Lage sind, viel Zeit und Kraft in die Gemeinschaft zu investieren. Man muss also diese ganzen Fragen, in denen es um Sexualität geht, immer im Rahmen des antiken Haushalts sehen. Da sind SklavInnen, Frauen und Kinder Eigentum des Hausvaters, und der gibt vor, wie Zusammenleben funktioniert. Das ist die Norm. Deshalb schreibt Paulus kapitelweise darüber, wie nichthierarchisches Zusammenleben aussehen kann (z. B. 1. Brief an die Korinther 12).
Aber er spricht eben auch von der „Schande“, die „Mann mit Mann“ treiben, und auch von „Verirrung“.
Nun gibt es in der Bibel Äußerungen zu sehr vielen Themen: Ganz klar fordert und begründet zum Beispiel das 5. Buch Mose (Deuteronomium 15) einen umfassenden Schuldenerlass alle sieben Jahre. Im Vaterunser beten wir das in jedem Gottesdienst: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ – hier geht es ganz deutlich auch um ökonomischen Schuldenerlass. Eine weitere zentrale ethische Forderung der Bibel ist es, Menschen in Not und Flüchtlinge aufzunehmen. Hier sind viele Menschen heute ganz schnell dabei, das historisch zu relativieren oder für nicht so wichtig zu halten.
Kann die Bibel dann überhaupt eine moralische Leitschrift sein?
Das genau ist die Grundfrage. Warum gehe ich an einer Stelle davon aus, dass hier eine zeitlose Wahrheit steht und an einer anderen Stelle eine zeitbedingte Haltung? Warum sage ich, es ist eine unverrückbare Aussage, wenn es um Homosexualität geht, die Forderung, EhebrecherInnen zu steinigen, interpretiere ich aber zeitgeschichtlich? Die Bibel ist kein Buch, in dem zeitlose Wahrheiten stehen, die uneingeschränkte Gültigkeit für alle Zeiten haben. Sie ist auch keine moralische Instanz, die ich heranziehen kann, wenn es mir passt.
Wenn die Bibel keine moralische Instanz ist, was ist sie dann?
Ziel der Schrift ist das Leben in Fülle für alle Menschen – so wie sie von Gott geschaffen wurden. In meiner Lieblingsstelle bei Paulus sagt er zur Bibel (Brief an die Römer 15,4): „Alles, was einst aufgeschrieben wurde, wurde verfasst, damit wir daraus lernen und durch die Widerstandskraft und den Trost der Schriften Hoffnung haben.“ Die Bibel ist für mich ein Buch gegen die Resignation, ein Buch der Hoffnung und des Lebens.
Nun hat man gerade in der Debatte über Homosexualität den Eindruck, als würde die Bibel das genaue Gegenteil auslösen von dem, was Sie sagen. Denn in der Tat scheinen viele ChristInnen ja das Wort wörtlich zu nehmen und sind voller Angst, etwas Falsches, etwas gegen Gottes Willen zu tun.
■ Wie Behinderte: Am Dienstag forderte das Europaparlament eine EU-weite Strategie zum Schutz Homosexueller. Die Abgeordneten verlangten einen Aktionsplan“ für bessere Rechte von Schwulen und Lesben. Diese sollten einen ähnlichen Schutz erfahren wie etwa Frauen, behinderte Menschen oder Roma.
■ Nicht wie Behinderte: Die Befürworter der Resolution hatten argumentiert, dass sich laut EU-Umfragen jeder zweite Homosexuelle in Europa diskriminiert fühlt und jeder dritte körperlich angegriffen wurde. Gegnern, wie der konservativen deutschen „Initiative Familienschutz“, gehen die verlangten Rechte zu weit. Die Lage Homosexueller sei nicht mit den Problemen Behinderter oder der Roma vergleichbar. (epd)
Die Ängste kommen nicht aus der Bibel. Sie kommen von Menschen, die Ängste erzeugen wollen und dabei die Bibel als Unterdrückungsinstrument benutzen. Die Ängste werden von Menschen erzeugt, um ein starres Bild von „Normalität“ festzuschreiben. Sie üben gesellschaftlichen Druck gegen alle aus, die sie als die „Anderen“ definieren. Das ist nicht nur auf der Ebene der Sexualität so. Dieser gesellschaftliche Druck richtet sich gegen alle, die etwas anderes wollen, die ausgegrenzt werden im Namen der Bibel.
Was heißt all das für ein Land, in dem AtheistInnen leben und Menschen anderer Religionsgemeinschaften?
Mit Menschen anderer Religionen, die versuchen, ihr Handeln im Gegenüber zum Göttlichen zu leben, Nächstenliebe und Barmherzigkeit in den Mittelpunkt ihrer religiösen Praxis stellen, habe ich ganz schnell eine große Nähe, bei aller Unterschiedlichkeit. Übrigens gilt diese Gemeinsamkeit auch für die FundamentalistInnen aller Religionen. Auch sie können sich schnell darauf verständigen, dass sie sich gegenseitig als die jeweils „Anderen“ ablehnen, sie sind sich einig in ihren patriarchalen Familienvorstellungen, ihrer Frauenfeindlichkeit und der Ablehnung von Homosexualität.
Auslöser der aktuellen Debatte ist der Entwurf eines Bildungsplans in Baden-Württemberg, in dem steht, dass Kinder lernen sollen, dass es unterschiedliche Lebensentwürfe gibt, mehr als heterosexuelle Beziehungen also. Sollte man sich in diesem Kontext überhaupt auf die Bibel beziehen?
Grundsätzlich: nein – und wenn überhaupt, dann nur sehr differenziert. Oft geschieht das aber nur sehr oberflächlich nach dem Petersilienprinzip: Wenn der Braten fertig ist, wird noch die Petersilie – sprich die geeignete Bibelstelle – darübergestreut. Die Bibel kann nicht als göttliche Verstärkung meiner eigenen oft mangelnden Autorität herangezogen werden. Zudem ist das Ergebnis dann fatal, weil im Zweifelsfall all jene damit abgeschreckt werden, die tatsächlich ein ernstes Interesse an den Fragen haben.
Wann begründen Sie Ihr Handeln denn mit der Bibel?
Ich kann darlegen, warum ich mein Handeln im Gegenüber zur biblischen Weisung verstehe, warum mir Werte aus meiner christlichen Tradition heraus wichtig sind, aber ich kann die Bibel nicht als autoritatives Gesetzbuch heranziehen. Dabei ist es sehr wichtig, dass wir wieder unsere biblische Tradition kennenlernen – zum einen, um unsere kulturelle Geschichte und Prägung zu verstehen. Viele Menschen – oft auch die, die sich auf die Bibel beziehen, auf den „klaren biblischen Befund“ in manchen Fragen – kennen die Bibel gar nicht mehr.
Am Anfang unseres Gesprächs haben Sie gesagt, Liebe kann nicht Sünde sein. Was ist eigentlich eine Sünde?
Im Griechischen und auch Hebräischen geht es bei den Wörtern, die in traditionellen Bibelübersetzungen mit „Sünde“ wiedergegeben werden, immer um konkretes Unrecht – im Miteinander von Menschen und damit auch gegenüber dem Göttlichen. Paulus beklagt vielfach die globalen Unrechtsstrukturen des römischen Imperiums, in die Menschen als MittäterInnen verstrickt sind. Er ruft dazu auf, das ungerechte Handeln zu verändern und sich gegenseitig darin zu bestärken, dem etwas entgegenzusetzen. Sünde wird nicht ontologisch oder rein moralisch verstanden. Das haben erst spätere Traditionen entwickelt.