: Sechs Stunden ohne Sinn
Unser Autor hat nächtelang ferngesehen. In Quizshows, Verkaufssendungen und erotischen Sportvideos tummelt sich dort das deutsche Medienproletariat – für 49 Cent pro Anruf
von MARTIN WEBER
Es ist Sommer in der Stadt, außerdem weit nach Mitternacht, und der Asphalt dampft. Was den Mensch in der Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite nicht die Bohne stört: Sommers wie winters sitzt er in Unterhosen auf seiner schwarzen Ledercouch, raucht sich die Lungen wund und guckt in die Glotze. Ob er dasselbe sieht wie wir und auf einer seltsamen Expedition durchs Nachtprogramm ist? Einsam wäre er dabei nur auf seinem Sofa, allein jedoch keinesfalls: Rund 4,5 Millionen Menschen verbringen die Stunden zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens vor dem Fernseher, beachtliche 1,5 Millionen sind es noch in den Stunden zwischen drei und sechs.
Warum das so ist, kann auch der Blick in die Programmzeitschrift nicht klären: Nachts gibt es eigentlich nur Fernsehen, das kein Fernsehen ist. Sondern nur noch eine Plattform, auf der sich die Medienproletarier des Landes vereinen und auf der nur eins zählt: der Anruf des Zuschauers. Der Bildschirm mutiert zur Ladentheke, die rund um die Uhr geöffnet ist, beim Window-Shopping im 4:3-Format wird die Schönheit von Tiffanylampen gepriesen, der Komfort von Mikrofaserbettwäsche bestaunt und die Mimik von handgenähten Teddybären gewürdigt. Während man bei flimmernden Kaufhäusern wie QVC, HSE24 und dem RTL-Shop bei einem Anruf und gegen Geld noch Ware geliefert bekommt, sieht die Sache bei Quizsendern wie 9Live und Hobbyspielotheken wie auf Kabel 1, ProSieben, Sat.1 und dem DSF schon anders aus. Hier ist nur sicher, dass 49 Cent flöten gehen, ganz gleich, ob man mit dem Anruf durchkommt oder nicht.
Stellen wir uns also den Programmen nach Mitternacht, lassen wir das Gerät mehrere halbe Nächte lang durchlaufen, wagen mutig einen Ritt über die Fernbedienung und beginnen unser Experiment beim Deutschen Sport Fernsehen (DSF). Dort wird bereits nach weniger als zehn Sekunden klar: Der Sender hat eine klare Linie und weiß seinen Namen auch zu vorgerückter Stunde noch konsequent mit Inhalt zu füllen. Damit die Zeit zwischen der Reklame für Sex-Hotlines nicht allzu dröge gerät, werden die „Sexy Sport Clips“ versendet, in denen sich jede Menge Frauen nackig machen. Für das S in DSF reiben sich die Frauen im Schritt an einem Tennisnetz oder sitzen rittlings auf einem Hindernis, das ansonsten beim Springreiten Pferden den Weg versperrt, dem Oxer. Der Gipfel sportiver Erotik ist zweifellos erreicht, wenn sich zwei Damen beinahe komplett nackt an einem Schachbrett gegenübersitzen, dabei so geil wie dümmlich aus der Reizwäsche gucken und dazu F. R. Davids erster, bester und einziger Hit läuft: „Words, don’t come easy“. Kann man wohl sagen, denken wir und dann kurz darüber nach, ob das nur eine zufällige Laune der vollautomatischen Jukebox oder doch ein gezielter Jux des Redakteurs war.
Wir schalten rüber zu Sat.1. Dort beweist die „Quiz Night“, dass die vielen Scheinwerfer im Studio nicht unbedingt gut für den Teint sind. Als Alida Kurras die zweite Big-Brother-Staffel gewann, war sie das Küken. Heute ist sie 29 und sieht aus wie eine Fregatte, die nur mit Ach und Krach die eine oder andere Seenot überstanden hat. Was ihr in ihrem Job aber zugute kommt: Alida ist eine Anruf-Animierdame, ihre leicht rauchig-kratzige Stimme erinnert an die Gurkenhobelverkäufer aus westdeutschen Fußgängerzonen, und bestimmt drücken ihretwegen ganz viele Menschen 49 Cent in den Call-in-Opferstock ab. Das Spiel bei Frau Kurras geht so: Die Anrufer müssen unter Geldscheinen versteckte Wörter mit fünf Buchstaben erraten, die mit St beginnen, also zum Beispiel Stern oder Stirn. Die Preise liegen zwischen 100 und 500 Euro, und weil Alida heute nicht bei 9Live, sondern bei Sat.1 zugange ist, darf sie weniger prollig sein. Trotzdem fällt ihr bei der Antwort einer Anruferin das Kajal fast komplett aus dem Gesicht. „Studentin“, sagt die, und Alida antwortet nach zweieinhalb Schrecksekunden: „Das ist nicht richtig.“
Erstaunlich korrekt kommt dagegen das Nachtprogramm von 3sat daher. Bei „Silent Cooking“ geht es wirklich vorbildlich zu: Zu dezenten Reggae- und Ska-Klängen werkelt ein Koch mit Dreadlocks konsequent schweigend vor sich hin. Kein Wort, nirgends, nur hin und wieder werden Schlagworte wie „Staubzucker“, „Mehl“ und „Butter“ eingeblendet. Kredenzt werden Vanille-Heidelbeer-Törtchen für vier Personen. Eher weniger Leckeres läuft derweil bei HSE24. Auf dem Teleshopping-Kanal wird ein Klassiker feilgeboten: Der Pango 3000, ein universell einsetzbarer Rohrreiniger, der ohne giftige Chemie auskommt; die Handpumpe entwickelt bis zu 4 Bar Druck und pustet so den Dreck aus den (Fernseh-)Leitungen. Und das alles für sagenhaft günstige 39,99 Euro! Da kann man nun wirklich nicht meckern. Keinerlei Einwände kann man auch gegen den Redakteur haben, der mittlerweile auf Sat.1 in der „Quiz Night“ Dienst schiebt. Während sich auf dem Bildschirm die Moderatorendarstellerin Anna Heesch, die mal kurzzeitig mit dem Moderatorendarsteller Carsten Spengemann verheiratet war, mit einem Kreuzworträtsel plagt, in dem es um Städtenamen geht, ist der Redakteur auch zu später Stunde noch hellwach. Und in Sachen Orthografie dergestalt auf Dudenhöhe, dass er Anna Heesch über den Knopf im Ohr schlau machen kann: Stuttgart sieht am Ende mit einem „t“ eindeutig besser als aus mit „d“.
Hopfen und Malz verloren ist indes bei Jürgen Milski. Im Jahr 2000 war Milski Insasse im ersten Big-Brother-Haus; heute ist er 42, sieht aus wie ein Brathähnchen vom Teutonengrill und hat, genau wie Alida Kurras, ebenfalls bei Deutschlands erstem und erfolgreichstem Quizsender Unterschlupf gefunden. „Bitte freimachen!“ heißt die Sendung, mit der er heute Nacht möglichst zehntausendfach die 49 Cent für einen Anruf einsammeln soll. Die Art der Raterei ist dabei völlig schnurz. Wichtig ist vielmehr, wie die Höhe des Gewinns bei einer richtigen Lösung bestimmt wird. Zu dessen Ermittlung brüllt Jürgen die 9Live-Kundschaft im Stil eines Autoscooter-Animateurs an: „Wollt ihr was wackeln sehen?!“ Und: „Welche Früchtchen wollen Sie denn?!“ Dann steigen, ganz in Tuttifrutti-Manier, die Banane, die Kirsche oder die Melone auf ein Trampolin, hüpfen ein wenig und legen dabei ihre sekundären Geschlechtsmerkmale frei. Unter dem Bikini und auf den Brüsten stehen dann die alles entscheidenden Zahlen: 80, 90, manchmal gar 110. Was völlig überraschenderweise nicht die Maße der Frauen sind, sondern die Gewinne. In Euro.
Absolut unbezahlbar ist das, was zeitgleich auf dem DSF läuft. Es gilt Komposita mit dem Begriff „Fußball“ zu erraten, und schon ein paar Sekunden mit der Moderatorin, die sich Cheyenne Lacroix nennt, ist zweierlei klar. Erstens: Das Vokabular von Cheyenne Lacroix ist deutlich eingeschränkt; gut möglich auch, dass in den Werbepausen der Dauerwerbesendung die Batterien in ihrem Rücken gewechselt werden, damit sie weitersprechen kann. Zweitens: Der Bikini von Cheyenne Lacroix hat eine schwere Aufgabe, muss er doch grotesk aufgepumpte Brüste halten, die in etwa so groß sind wie halbierte Medizinbälle. „Cheyenne zieht gleich was aus!“, verrät eine Einblendung. Und wir vermuten mal stark: Es wird der Bikini sein. Weil Cheyenne Lacroix ihr Gehirn ja gar nicht erst angezogen hat. Später gibt’s dann noch eine Einblendung: „Cheyenne cremt sich ein!“ Das ist nun endlich mal Fernsehen mit hundertprozentigem Wahrheitsgehalt. Denn: Cheyenne cremt sich tatsächlich ein! Mit einer Lotion, die ihr jemand aus dem Off gereicht hat. Wahnsinn!
Leicht zu verkraften ist das alles vor dem Fernseher natürlich nicht. Womöglich hat sich in der Wohnung auf der anderen Straßenseite diese Erkenntnis auch durchgesetzt. Über dem Ledersofa ist’s jedenfalls mittlerweile dunkel. Doch was wirklich gegenüber passiert ist, bleibt Spekulation. Ist die Unterhose auf dem Sofa eingeschlafen und hat vorher noch schnell das Licht gelöscht? Hat die Unterhose samt Mensch den Restverstand zusammengeklaubt, ist Richtung Bett gewankt und hat dort eventuell noch ein paar Seiten in einem Buch gelesen? Wir wissen es nicht. Und unklar wird auch bleiben, warum sich Nacht für Nacht Millionen von Menschen vor ihren Fernsehern die volle Palette des dümmlichen Nachtprogramms reinziehen. Etwas Schöneres als die eigene Einsamkeit und potenzielle Schlaflosigkeit mit 9Live, Quizspielchen und brüllenden ehemaligen Containerbewohnern zu teilen, findet sich doch wohl überall. Oder?!
Ermattet schalten wir ein letztes Mal um. Bei „Astro TV“ auf NRW.TV sitzt eine Moderatorin, die keck behauptet, ein Medium für Schutzengelkontakte zu sein. Nach einer kurzen Überlegung verwerfen wir den Gedanken, die Hilfe des Schutzengelkontakt-Mediums in Anspruch zu nehmen. Stattdessen ordern wir aus reiner Notwehr etwas so Tröstliches wie einen Sendeschluss – den es aber ja leider schon lange nicht mehr gibt. Auch das Plädoyer für das beruhigende Testbild läuft ins Leere. Am Ende, auf HSE24, dann die Lösung: Der Pango 3000 wird es richten. Seine 4 Bar Druck könnten reichen, um den Dreck aus dem Fernsehen zu pusten. Hoffen wir das Beste.