: Der Bär im Dauerspagat
Zieht der Mann die Gans oder die Gans den Mann? Und was ist mit der schnatternden Gans im Autor? Eindrücke vom Literaturfestival im tschechischen Brno, wo im Juli die Berliner Literatur zu Gast war
von BERND CAILLOUX
So nah, so fern – es gibt tatsächlich eine direkte Bahnverbindung von Berlin nach Brno, zu Deutsch Brünn. Zehn heiße Stunden durch Sachsen, Böhmen und Mähren, Verspätung obligatorisch, die Aircondition nur ein Hauch wie aus Mumienmündern, derweil sich draußen die Tschechische Staatsbahn als Weltmeister im Bauen sowie Verfallenlassen seltsamster hrabalistischer Schuppen zeigt.
In diesen Juliwochen saß täglich eine andere Dichterin, ein nächster Schriftsteller im Zug Berlin–Brno, von Yade Kara bis Gregor Sander. Schlappgekocht angekommen, rutscht mir die unhöfliche Gretchenfrage raus: Was zieht einen auf diese Strecke, warum mache ich das eigentlich? Weil hier ein gutes Literaturfestival läuft, sagt Lubomír Sůva, einer der Organisatoren, und Berlin ist guest of honour. Brünn, das Zentrum Mährens, baulich gut ausgestattet mit frühem Mittelalter über Barock bis Mies van der Rohe und im Konsum optisch auf Westhöhe, versteht sich auch auf Highlights der Finsternis: Im Rathaus hängt ein maulaufreißendes Krokodil unter der Decke, in einer Klostergruft liegen seit 400 Jahren dank ausgeklügelter Luftzirkulation 43 Kapuzinermönche original eingetrocknet hinter Glas, ordensethisch mit nur zwei unter den Kopf geschobenen Ziegelsteinen. Kulturell passt ein Berliner Literaturfestival also ohne weiteres hierher, einen Steinwurf entfernt am Dominikanerplatz, in einem Spätrenaissancegebäude, heute ein Theater. Wie heißt es? Divadla husa na provàzku – Das Theater zum Spagat. Wie? Das Theater zum Dauerspagat. Ich funke nach Berlin: Heute Abend Lesung im Dauerspagat.
Falsch, sagt Dolmetscher Tomasz, das wäre nur bildlich übersetzt. Wir waren ja im Tschechischen, da funktioniert’s sprachlich, kulturell und auch sonst komplizierter. Das Theater heißt „Die Gans am Strick“. Sie wird gezogen und bremst streckenweise, das wäre der Spagat – ein Experimentaltheater der Siebzigerjahre. Damals wurde der Name ziemlich schnell verboten, der noch gut erinnerliche Präsident hieß nämlich Husák, Gustáv, und provas heißt Strick oder Seil, phonetisch so zu verstehen: Hängt ihn auf, den Gustav Gans.
Auch literaturhistorisch machte die Sache Probleme. „Die Gans am Strick“ ist der Titel einer Erzählung des mährischen Dichters Jiří Mahen. Darin zieht jeden Tag ein Mann eine Gans durchs Dorf, und am Ende weiß keiner mehr, ob die Gans ihn zieht oder er die Gans – das gefiel Husák auch nicht. Und heute sieht sich das Volk der Tschechen wieder am Strick im politischen Dauerspagat: Die eine Hälfte spreizt das Bein nach links, die andere nach rechts – keine Seite hat die Mehrheit im Parlament.
Angesichts des Tauziehens in Prag kommt die Kultur zu kurz. Um so überraschender, wie glänzend diese Berliner Autorenrevue organisiert wurde, und das von privater Seite, von der Verlagsagentur Vetrnemlyny. Jeden Abend füllten fünfzig bis hundert Zuhörer das Theater – die Lesungen wurden hochinteressiert aufgenommen, die Fragen kamen wiederum spagatartig, gespalten zwischen Neugier und Skepsis gegen die für sie noch neuen kapitalistischen Lebensform. Selbst die Dekoration stimmte: An Seilen hängend, baumelten zahllose Bären, schwarze Schablonen wie fürs Figurentheater. Der Namensgeber Jiří Mahen dagegen endete leider am Strick – er erhängte sich, womöglich verrückt geworden an der ewig schnatternden Gans im Autor. Die tschechische Literatur ist bekannt für ihr hohes Maß an Verzweiflung. Auch die jungen, idealistischen Veranstalter kommen ihr von Tag zu Tag näher. Obwohl zugesagt, hat das Kulturministerium gegen Ende des Festivals noch nicht eine einzige Krone überwiesen.
Bernd Cailloux ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Das Geschäftsjahr 68/69“