Die Neuerfindung der Tradition

SUFI-SOUND Taugt traditionelle Musik nur noch als Touristenattraktion oder fürs Museum? Der türkische Musiker Mercan Dede wagt ein Update mit Derwisch-Tanz. Im Berghain trifft er auf den Perkussionisten Trilok Gurtu

Unter der wehenden Kutte und der kubischen Mütze verbirgt sich oft eine Tänzerin

VON DANIEL BAX

Welchen Platz hat die traditionelle Musik heute noch – heute, wo der Alltag der meisten Menschen auf der Welt immer weniger von überlieferten Ritualen und Zeremonien oder dem Wechsel der Jahreszeiten bestimmt wird und Pop weltweit die neue Volksmusik geworden ist? Wo an die Stelle althergebrachter Erntelieder, Hochzeitstänze und religiöser Gesänge der aktuelle Radiohit getreten ist? Sind traditionelle Klänge in einer zunehmend globalisierten Welt dazu verurteilt, auf eine touristische Attraktion reduziert zu werden oder als museales Artefakt im Archiv zu verschwinden, im besten Fall für die Nachwelt digitalisiert? Oder ist sie eine Ressource, die heute noch Bedeutung und Kraft besitzt? Das sind die Fragen, die hinter zwei Konzerten und einem Roundtable-Gespräch am kommenden Dienstag stehen.

Der türkische Musiker Mercan Dede, der am Dienstag als Highlight im Berghain spielen wird, bietet ein gutes Beispiel für den kreativen Umgang mit lokalen Traditionen. Unter dem Künstlernamen Arkin Allen hat er sich erst als Techno-DJ in Kanada einen Namen gemacht, bevor er sich dem Sound der Sufi-Orden aus den Zeiten des Osmanischen Reichs zuwandte.

Deren Tradition war in den 1920er Jahren jäh abgebrochen: Als die moderne Republik Türkei gegründet wurde, ließ ihr Staatsgründer Kemal Atatürk die muslimischen Bruderschaften der Sufi-Derwische verbieten, ihre Klöster und Konvente wurden aufgelöst. Das Sema-Ritual, der kreisende Tanz der Mevlevi-Derwische, der Zikr und andere Formen der mystischen Versenkung wurden in den Untergrund verbannt und durften lange Zeit lediglich im mittelanatolischen Konya, wo sich die Grabstätte des berühmten Sufi-Mystikers aus dem 13. Jahrhundert Dchallaleddin Rumi befindet, zu touristischen Zwecken öffentlich aufgeführt werden.

Im Zuge eines allgemeinen Revivals osmanischer Traditionen in der Türkei sind auch die kreisenden Derwische in den letzten Jahrzehnten immer mehr in die Öffentlichkeit zurück gekehrt. Vom Vorwurf des Obskurantismus weitgehend rehabilitiert, sind sie inzwischen sogar zum touristischen Markenzeichen Istanbuls und der Türkei aufgestiegen. Es sind aber durchwegs moderne Großstadtbewohner, die tagsüber ins Büro gehen, die heute dieses Ritual pflegen, und keine Mönche mehr, die zurückgezogen in Derwisch-Klöstern leben. Die Tradition hat sich komplett verändert.

Bei Mercan Dede kommt die Trance aus der Steckdose, und die Ekstase wird mit den Mitteln der Elektronik gesucht. Seine Alben tragen karge, aber poetische Titel wie „Su“ (Wasser), „Nar“ (Feuer), „Nefes“ (Atem) und „Dünya“ (Welt). Der 48-Jährige hat aber auch ein eigenes Ensemble gegründet, das die orientalischen Sufi-Weisen in klassischer Instrumentierung mit der Rohrflöte Ney, der Rahmentrommel Bendir und der Bechertrommel Zarp auf die Bühne bringt. Seine Auftritte werden meist von einem drehenden Sufi-Tänzer umrahmt, wobei sich unter der wehenden weißen Kutte und der kubischen Mütze aus Kamelhaar häufig eine Tänzerin verbirgt.

Im Berghain wird Mercan Dede gemeinsam mit dem deutsch-indischen Perkussionisten Trilok Gurtu auftreten, der als Weltenwanderer zwischen Jazz und Weltmusik bekannt ist. Bisher hat sich Gurtu eher mit afrikanischen und indischen Kollegen zuammengetan. Erst einmal ist er mit Mercan Dede aufgetreten, bei einem gemeinsamen Konzert in Istanbul. Das zweite Treffen findet nun auf deutschem Boden statt.

Die Trance kommt aus der Steckdose, Ekstase wird mit den Mitteln der Elektronik gesucht

Zwei Tage zuvor, am Sonntag in der Sankt-Johannes-Evangelist-Kirche in Mitte, wird das Ensemble Extrakte aus Berlin eine „Komposition aus Vogelstimmen, Echos und Geräuschen“ präsentieren. Indischer Dhrupad-Gesang trifft auf BeBop, und aus den Stimmungen traditioneller Instrumente wie der arabischen Ud-Laute, der chinesischen Spießgeige Erhu und einem englischem Horn werden neue Tonleistern gebastelt. So schlägt das Ensemble um den indisch-kanadischen Komponisten und Künstler Sandeep Bhagwati den Bogen zur Neuen Musik.

Mit dem Veranstaltungspaket soll an die Gründung des internationalen Instituts für traditionelle Musik vor 50 Jahren erinnert werden, das mit seiner Unesco-Schallplatten-Serie und seinem hochklassigen Festival im Haus der Kulturen der Welt ein Stück Musikgeschichte schrieb. Es wurde 1996 abgewickelt, weil der Senat dafür kein Geld mehr übrighatte. Der letzte Leiter, Max Peter Baumann, nahm die Sammlung des Instituts mit an seinen Lehrstuhl nach Bamberg, dort lagerte sie bis 2010.

Inzwischen ist die Sammlung wieder zurück in Berlin, im Phonogramm-Archiv des Ethnologischen Museums. Ihr Nachlassverwalter, die „Gesellschaft für traditionelle Musik Berlin“, setzt sich dafür ein, dass dieses Erbe nicht verloren geht.